Grünmantel
zufügen konnten, wo blieb da noch Hoffnung? Sie hatten ihm das angetan - und noch soviel Böses mehr in seinem Namen! Sie hatten gefoltert, vergewaltigt und gemordet - alles im Namen eines Mannes, den sie gekreuzigt hatten, eines Mannes, den sie sofort wieder an Kreuz nageln würden, käme er jetzt zu ihnen zurück.
Lewis hat recht, dachte sie, als sie ihren Widerstand aufgab. Es hat keinen Sinn, sich zu wehren, es ist besser, einfach davonzugehen und das Leben hinzugeben, wenn das alles ist, was es zu bieten hat. Wenn sich die Menschen hinter ihren lächelnden Gesichtern nur Haß und Schmerz zu geben haben. Ich denke, du hast mir über eine Sache die Wahrheit gesagt, Lewis.
»Willst du errettet werden«, sagte der Kapuzenmann zu ihr, »dann glaub an den Herrn. Nur er kann sich schützend zwischen dich und das Monster stellen, das dich in den Klauen hält. Glaub an den Herrn, Kind! ›Seine Feinde werden vor ihm im Staub kriechen.‹ Glaub an Christus als deinen Erlöser, und du wirst errettet werden!«
Aber Ali hörte ihm nicht mehr zu. Sie hatte sich an einen Gedanken geklammert, und wo nichts sonst ihr geholfen hatte - dieser Gedanke tat es.
Lewis.
Was hatte Lewis noch über das Mysterium gesagt?
Es ist immer schon ein Spiegelbild dessen gewesen, was man in ihm sehen will - was man ihm im Herzen entgegenbringt.
Wenn man sich ihm also mit Gewalt oder Geilheit im Herzen näherte, wurde das reflektiert. Wenn man aber mit Herzensgüte, ohne Bosheit zu ihm kam ... Niemand war vollkommen, aber wenn man ernsthaft versuchte, ein guter Mensch zu sein, war es einem wohlgesonnen, nicht wahr? Sie versuchte, sich Jesus vorzustellen - nicht dieses schreckliche Bild am Kreuz, sondern andere Bilder, die sie gesehen hatte. Jesus als liebevollen und freundlichen Mann ...
In ihr glomm ein Licht auf und verdrängte die Bilder des Kapuzenmannes. Ihr Peiniger hatte ihr die Wahrheit gezeigt, richtig. Aber nicht die ganze Wahrheit.
Das Licht in ihrem Innern wurde immer stärker, und der Kapuzenmann stolperte über seine Worte. Verblüfft, vielleicht auch erschrocken darüber, was er auf dem Gesicht seines Opfers sah, trat er einen Schritt zurück. Kaum verlor das Kreuz den Kontakt mit ihrer Haut, wurde Alis Kopf klar. Ein anderes Feuer, ihr eigenes Feuer, bannte ihre Angst, ihre Verwirrung. Sie sah Christi Gesicht und lächelte, denn er hatte die Augen des Mysteriums.
Es war so einfach, daß sie am liebsten geweint hätte. Das Mysterium war immer nur das, was man ihm entgegenbrachte.
Das Licht in ihrem Innern drang aus ihren Poren, und schließlich schien Ali sich in eine flammende Statue zu verwandeln. Die Fesseln fielen ihr von den Gliedern. Ali löste sich vom Baum und ging auf die Mönche zu. Waren auch sie das, was man ihnen entgegenbrachte?
Sie hatten sie gejagt, weil sie den Geruch der Gegenwelt an sich trug, als sie von Irgendwo zurückkehrte. Als sie ihnen dann gegenüberstand - waren es ihre eigenen Befürchtungen, ihre eigene Verwirrung gewesen, die dem Kapuzenmann die Worte in den Mund gelegt hatten?
»Ich brauche nicht errettet zu werden«, sagte sie leise.
Das Licht strahlte hell aus ihrem Körper, und die vermummten Gestalten, auf die es traf, schmolzen dahin. Die Kutten hingen ihnen leer an den Körpern, und plötzlich waren sie wieder eine Hundemeute, die winselnd und geifernd zurückwich, als Ali auf sie zutrat, und schließlich in wilder Flucht davonstob.
Das war alles? wunderte sich Ali. Mehr brauchte es nicht dazu?
»War es wirklich ein so leichter Kampf?« fragte eine Stimme hinter ihr.
Ali drehte sich um. Das Mysterium stand in Gestalt eines Mannes unter der Pinie und schaute sie an. Aus seiner Stirn wuchsen Widderhörner, und er trug einen Mantel aus grünen Blättern.
»Du warst nahe daran, dies alles nicht zu überstehen«, fügte der Mann hinzu.
Ali sah ihn an. Die Scheu, die sie bei ihrer Begegnung in Irgendwo vor ihm empfunden hatte, war verweht. Das Wesen, das dort so ruhig unter dem Baum stand, erschien ihr wie ein alter Freund.
»Ich habe dich gerufen«, sagte sie, »aber statt deiner kamen sie.«
Der Mann nickte. »Es war notwendig, daß du ihnen begegnetest. Ich bin gekommen, um dir zu helfen, aber du brauchtest meine Hilfe nicht.«
»Aber du hast mir geholfen! Ich hatte schon aufgegeben, als mir wieder einfiel, was Lewis einmal über dich sagte - daß du immer das bist, was wir zu dir bringen. Das ist doch so, oder?«
Der gehörnte Mann nickte.
»Möchtest du frei sein? Denn das
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