Grünmantel
Verfassung, jetzt noch weit zu laufen. Schon gar nicht durch den Wald.«
»Aber ...«
Lewis nahm ihre Hand. »Erzähl mir, wo du gewesen bist.«
Ali wollte widersprechen, aber ihr fehlte die Kraft. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Es ... ist ... so schwer zu erklären ...«, begann sie. Ihre Augenlider begannen zu flattern, und ehe sie merkte, was vorging, war sie schon eingeschlafen.
Lewis legte sie sanft zu Boden und nahm ihren Kopf in seinen Schoß. Er wußte nicht, woher sie aus heiterem Himmel aufgetaucht war und was heute nacht mit ihr geschehen war. Aber er fühlte, daß sich etwas Wichtiges ereignet hatte. Die Dinge hatten eine Wendung genommen, von der sie alle betroffen sein konnten. Ich muß nur warten, bis Ali aufwacht, dachte er und streichelte ihr über den Kopf.
Das arme Kind war völlig erschöpft. Er hätte sie gern zu seiner Hütte getragen, fürchtete aber, daß er kaum Kraft für den Abstieg hatte - auch ohne sie tragen zu müssen. Sie mußten also hierbleiben, bis Mally zurückkam. Er hoffte, daß es nicht allzulange dauerte, doch nach allem, was in dieser Nacht geschehen war, gab er nicht viel auf seine Hoffnungen. Hauptsache, sie käme zurück. Dann wäre er schon zufrieden.
Er ließ das Kinn auf die Brust sinken und streichelte weiter über Alis Haar. Wenn er sich anstrengte, konnte er Tommys Flöte hören, obwohl er noch nie so spät in der Nacht darauf gespielt hatte. Die Klänge beschwichtigten seine Sorgen - wenn auch nur ein wenig.
KAPITEL ZEHN
Earl konnte der UZI ausweichen, verlor aber dabei seine .38er. Die Pistole fiel vor seinen Füßen ins Gras. Er bückte sich und hob sie auf. Als er sich wieder aufrichtete, kniete Frankie hinter Valenti und zielte mit der Automatik auf ihn.
»Das hatten wir doch schon, Frankie«, knurrte Earl. »Erinnerst du dich?«
Sie starrte ihn an und kämpfte mit den Tränen. O ja, sie erinnerte sich. Was Tony ihr gezeigt hatte. Was Earl mit ihr vorhatte, was er mit Ali vorhatte. Er verdiente es, erschossen zu werden, er verdiente das Schlimmste, das einem Menschen widerfahren konnte.
»Du hast nicht den Mumm dazu«, sagte Earl. Seine Zähne schimmerten weiß hinter seinem hämischen Grinsen. »Also, leg das Ding hin und laß uns mit dem Blödsinn aufhören. Du brauchst deine Knie nicht, um mir den Zaster zu überschreiben. Entweder wirfst du das Schießeisen weg, oder ich schieße dir die Knie weg, Schätzchen. So einfach ist das. Aber vielleicht bist du ja doch so mutig und schießt. Dann habe ich ’n paar nette Neuigkeiten für dich, Frankie. Man sackt nicht einfach zusammen und stirbt, wenn auf einen geschossen wird. Sieh dir doch nur deinen Knaben an. Er ist noch nicht tot. Schieß auf mich, und ich nehme dich mit in die Hölle. Aber du wirst nicht auf mich schießen, stimmt’s?«
Sie hätte es so gern getan, oh, wie sehr sie sich das wünschte. Es wäre Notwehr. Es wäre völlig gerechtfertigt, ihn umzubringen. Die halbe Welt würde sich erheben und Beifall klatschen, wenn sie es täte. Aber sie konnte es nicht. Nicht, weil sie nicht den Mut dazu hatte, sondern weil sie sich damit auf seine Stufe begäbe.
Sie hatte Verständnis für Tony, für alles, was er getan hatte. Aber sie wußte, sie selbst könnte niemals mit dem Bewußtsein leben, einen anderen Menschen getötet zu haben, ob nun zu Recht oder nicht. Gott war ihr Zeuge, daß sie es gern getan hätte. Aber wenn sie es täte, hätte Earl gewonnen. So oder so. Und da sie ohnehin der Verlierer war, wollte sie zumindest zu ihren eigenen Bedingungen verlieren.
Sie ließ die Hand sinken und warf die Waffe vor Valentis Körper ins Gras. Seine Augen waren geöffnet, und in dem unsicheren Licht des brennenden Hauses meinte sie Zustimmung in seinem Blick zu erkennen. Irgendwie schien er zu wissen, was in ihr vorging, und respektierte ihre Entscheidung. Darin unterschied er sich von Earl: Was dieser bei ihr als Schwäche auslegte, hatte Tony als ihre Stärke erkannt.
»Sehr schön«, brummte Earl. »Bist manchmal doch ’n kluges Kind, Frankie. Morgen früh, wenn die Bank aufmacht, holen wir das Geld, und dann verschwinde ich aus deinem Leben. War doch gar nicht so schwer eben, oder?«
Es ist die schwierigste Entscheidung meines Lebens gewesen, dachte Frankie. Aber sie wußte, das verstünde er nie.
»Was ... was ist mit Tony?« fragte sie.
»Wir lassen ihn hier.«
»Aber ohne Hilfe stirbt er.«
Earl nickte, immer noch grinsend. »Yeah, das weiß ich.«
Frankie sah auf Valenti
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