Grünmantel
mich doch noch nicht entschieden!«
Aber sie hatte sich schon entschieden, wie sie plötzlich selbst feststellte. Das Mysterium hatte ihre Gedanken gelesen und ihre Entscheidung erkannt, ehe sie selbst sie wußte.
»Wenn ich wirklich weise wäre«, schalt sie sich leise, »hätte ich dies alles, was heute nacht geschieht, nicht ins Rollen gebracht.«
Sie dachte daran, was das Mysterium ihr gezeigt hatte. Sie mußte sich darauf verlassen, daß es Ali rettete, während sie selbst versuchte, dem lahmen Mann zu helfen. Sie drehte sich um und sprang, zwei Trittsteine auf einmal nehmend, über den Bach. Später wäre noch Zeit genug, sich über alles den Kopf zu zerbrechen - über das Sprechen des Mysteriums, über Weisheiten und Leute, die nicht so weise waren, über solche, die frei und andere, die nicht so frei waren ... Sie würde das alles später sortieren und auf die Reihe bringen. Jetzt war es Zeit zu handeln.
Auf der Lichtung mit dem alten Stein trat ein Mann mit einem Mantel aus grünen Blättern aus den Bäumen auf die Wiese heraus. Gaffa winselte und kroch vorsichtig zu ihm hin. Er schnupperte an seinen Schuhen und war anscheinend verblüfft, keine Witterung vorzufinden.
Der Mann betrachtete den Stein, und seine Widderhörner glänzten im Sternenlicht. Dann ging er auf ihn zu und verschwand darin.
Hinter ihm erwachte Tommy Duffin. Er fand sich an den Stein gelehnt und drückte das Gesicht gegen den kalten Fels. Die Flöte hielt er locker in der Hand. Um ihn herum lagen überall frische grüne Blätter - als hätte man sie gerade vom Baum abgerissen. Auf dem Boden neben seinen Füßen bildeten sie ein dickes Kissen, und er setzte sich behutsam darauf nieder.
Gaffa legte den Kopf auf Tommys Knie, und der Junge streichelte seinen Hund. Dabei wunderte er sich über den seltsamen Traum, den er gerade gehabt hatte. Er wußte, er hatte die Lichtung nicht verlassen, doch fühlte er sich, als sei er, als sei ein Teil von ihm eine weite Strecke Weges gegangen, als ob er bis zum Sonnenaufgang noch eine lange Wanderung vor sich habe.
Er schüttelte bedächtig den Kopf, setzte die Flöte an die Lippen und blies sanft hinein. Wie zur Antwort schien der alte Stein in seinem Rücken leicht zu erbeben.
KAPITEL NEUN
»Dies hast du verehrt, Kind«, sagte die vermummte Gestalt.
Durch ihren Schmerz hindurch vernahm Ali seine Worte, konnte aber nicht sofort erkennen, wovon er sprach. Er hielt ihr immer noch das Kreuz gegen die Stirn, und durch die Berührung sprang eine weiße Hitze in ihren Körper über und raste ihr wie ein Buschfeuer durch das Nervensystem. Ihre Gedanken wanderten zu den Volkssagen und Märchen, die sie immer so gern gelesen hatte. Elfen fürchteten Metall und die Symbole des Christentums. Brannte das Kreuz so sehr an ihrer Stirn, weil sie eine Elfe war? Früher hatte sie sich immer als Fee vorgestellt. Vielleicht war sie wirklich eine Fee und mußte dafür nun brennen.
In diesem Moment, während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, ließ der Schmerz nach. Wie eine Gliederpuppe hing sie in ihren Fesseln, und eine Reihe von Bildern tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Der Kapuzenmann fütterte sie mit Bildern, die sie nach seinem Willen sehen sollte.
»Erkenne das Böse und sprich mir nach: Der Herr ist mein Fels, meine Festung, mein Erretter«, sagte er.
»N ... nei ... n ...« Ali versuchte, den Kopf zu schütteln, doch das Kreuz drückte ihn gegen den Baum. Unfähig, sich zu rühren, ließ sie die Bilderflut an sich vorbeiziehen.
Der Ziegenmann streifte durch ihren Geist, das Gesicht mit den rotglühenden Augen vor Lust verzerrt, und der Phallus stand ihm aufrecht zwischen den Beinen hervor wie ein Baum. Er streichelte sein Glied, während er Ali anstarrte. Eine lange gespaltene Zunge glitt zwischen seinen Lippen hervor und bewegte sich im Rhythmus einer Musik, die wie Tommys Flötenspiel klang und auf dem gleichen Instrument gespielt wurde. Aber sie war disharmonisch und erzeugte solchen Ekel in Ali, daß sich ihr die Nackenhaare sträubten. Ihr Magen hob sich, und sie mußte würgen.
»Für diese Kreatur hast du dem Herrn entsagt?« donnerte der Kapuzenmann. »Für solch ein Ungeheuer?«
»N ... nicht ... wahr ...«, preßte Ali hervor. Sie versuchte, die Schatten unter der Kapuze des Mannes zu durchdringen, doch die Bilder, die er ihr eingab, waren zu stark.
»Es ist nicht wahr?« rief er. »Und was ist hiermit ... ist das da auch nicht wahr?«
Auf einem Feld sah sie einen Mann
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