Grünmantel
war der eigentliche Grund für alles, was geschehen ist. Ich wollte dich fragen, ob du frei sein willst.«
»Ob ich frei sein will - oder du?«
»Ich ... ich weiß nicht. Sicher, ich möchte auch frei sein. Ich wußte bisher nur nicht, daß ich es nicht war. Und was ist mit dir?«
»Ich kann erst frei sein, wenn die Menschheit nicht mehr ist. Ich mag aber auch nicht gebunden sein.«
»Was bist du?«
»Ein Mysterium.« Der Mann lächelte. »Wie schon deine Freundin Mally dir sagte ... Muß man immer alle Dinge erklären?«
»Es wäre aber hilfreich«, meinte Ali. »Vermutlich würde dann aber alles zu einfach.«
»Genau.«
»Warum kannst du den anderen nicht helfen?« fragte sie. »Zum Beispiel dem Mann mit dem Hund, den die Meute mir zeigte. Warum müssen solch schlimme Dinge geschehen?«
»Ich versuche zu helfen, aber die Menschen wollen sein, was sie sind. Sie ernten, was sie säen.«
»Von deiner Art gibt es noch mehr, nicht wahr?«
Er nickte.
»Ist Mally eine von euch?«
»Nein. Sie ist aus deiner Welt. Während ich aus der Gegenwelt hierherkomme, um eure Seelen zu berühren, entstammt sie ganz und gar eurer Welt - dem Boden, dem Wald und dem Mondlicht darüber. Ein kleines Mysterium.«
»Ein kleines Geheimnis«, korrigierte ihn Ali. »Weiß sie, wer sie ist?«
»Weißt du, wer du bist?«
Ein Dutzend einfache Antworten schossen Ali durch den Kopf, doch schließlich mußte sie seine Frage verneinen. Nach allem, was sie heute abend erfahren hatte, gab es keine einfache Antwort auf die Frage, wer sie war. Wer alle anderen Menschen waren.
»Ich frage mich, wohin sie gegangen ist«, sagte Ali schließlich. »Als ich dich rief, war sie hier bei mir - und dann war sie plötzlich verschwunden.«
Der Gehörnte lächelte. »Nicht sie - du. Du bist an einen anderen Ort gegangen, als die Hunde kamen, an einen Ort ähnlich dem, zu dem ich dich letzte Nacht getragen habe - aber in ein anderes Irgendwo. Die Welt und Mally sind immer noch dort, wo sie sich vorher befanden.«
»Aber wie ... wie komme ich darin zurück?«
Er trat zu ihr, zog seinen grünen Mantel aus und legte ihn ihr um die Schultern. Die Blätter raschelten, und sie berührte den Saum des Umhangs mit bebenden Fingern.
»Ich werde dich zurückschicken«, sagte der Gehörnte. »Aber denk immer daran, was ich bin, was ich sein kann; was du bist, und was du sein kannst.«
Er berührte ihre Stirn und strich sanft mit den Fingern über ihre Haut. Ali blinzelte. Sie hatte das Gefühl, in einem Aufzug in die Tiefe zu stürzen, weil sich ihr der Magen hob. Dann schaute sie wieder auf den gleichen Baum, aber der Gehörnte war verschwunden. Sie drehte sich um. Das Feuer brannte immer noch, und daneben hockte eine dunkle Gestalt.
›Mally ...‹, wollte sie schon sagen. Dann erkannte sie Lewis. »Hallo, Lewis«, sagte sie lächelnd. Sie empfand einen tiefen Frieden mit sich und der Welt.
Lewis sah erschrocken auf. Er hörte Mallys vertrauten Gruß, aber von einer anderen Stimme entboten. »Ali?« fragte er.
»Ja. Lewis, ich bin’s.« Sie berührte den Mantel. Die Blätter waren verschwunden, zumindest die echten, doch im Licht des Feuers schien der Umhang aus Hunderten von Stoffblättern gefertigt zu sein. »Ich hatte eine aufregende Zeit. Ich bin den ganzen Weg hin- und zurückgegangen - genau wie Bilbo.«
Lewis verstand die Anspielung nicht, hörte aber den träumerischen Unterton in ihrer Stimme. »Geht es dir gut, Ali?«
»Es könnte nicht besser sein. Was tust du hier, Lewis? Wo ist Mally? Ich habe euch soviel zu erzählen, doch zuerst möchte ich meine Mutter und Tony sehen, damit sie sich keine Sorgen machen. Oh, sie werden nicht glauben, was ich ...«
Sie verstummte, als sie im Schein der Flammen Lewis’ Gesichtsausdruck bemerkte.
»Was ist los?« fragte sie. »Was ist passiert?«
Lewis deutete in die Richtung von Valentis Haus, wo der Himmel dunkelrot schimmerte. »Ich glaube, da drüben hat’s Ärger gegeben«, sagte er leise.
Alis Hochgefühl wurde von nagender Sorge verdrängt. »O Gott!« rief sie und tat ein paar kurze Schritte. Offensichtlich aber hatten die Strapazen sie mehr erschöpft, als ihr selbst bewußt war. Sie taumelte und wäre gestürzt, wenn Lewis sie nicht aufgefangen hätte. »Ich muß zu ihnen«, sagte Ali. »Ich muß ihnen helfen.«
Lewis setzte sie vor dem Feuer nieder. »Wir können nur abwarten und hoffen«, sagte er. »Mally ist bei ihnen und hilft ihnen.« Hoffentlich, dachte er. »Du bist nicht in der
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