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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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spielte dem großen, alten, aufstrebenden Stein auf seinen Flöten aus Schilfrohr etwas vor. Er spielte immer nur am Abend, während sich die Dunkelheit allmählich über das Land senkte ...
    Wie schon sein Vater und Großvater besaß Tommy die derben Gesichtszüge der Duffins. Er hatte ein plumpes Gesicht mit Augen, die meist einen leeren, nichtssagenden Ausdruck zeigten. Das Haar stand ihm in wirren Büscheln vom Kopf ab.
    Doch kaum setzte er seine Flöte an die Lippen und blies hinein, war er wie verwandelt. Seine Züge schienen schlanker zu werden, ausgeprägter, und in seinen Augen glomm wie der tanzende Schimmer von Glühwürmchen ein Feuer auf, das ausdrückte: Ich kenne viele Geheimnisse - hört sie in meiner Musik. Dann war er nicht länger mehr derselbe Junge, der mit seiner Mutter allein in der Hütte lebte, die am nächsten beim Hügel lag.
    An diesem Dienstagabend schaute Lewis auf und sah Tommy vorbeigehen. Lewis saß auf den Stufen seiner Hütte und hob grüßend die Hand. Tommy nickte freundlich, hatte aber schon diese Entrücktheit im Blick und blieb bei seinem Aufstieg zu dem Stein kein einziges Mal stehen. Der wölfische Gaffa tollte durch die Felder gegenüber Lewis’ Hütte und suchte sich seinen eigenen Weg zum Ziel seines Herrn.
    Lewis blieb auf den Stufen sitzen. Er lauschte dem Gesang einer Amsel, dem Summen und Zirpen der Insekten - und wenig später der Musik von Tommys Flöte, die alle diese Geräusche überlagerte und durch die Entfernung geschönt wurde.
    Einer nach dem anderen schlenderten die Dorfbewohner langsam in Richtung des Snake Lake Mountain, den sie nach einem Hügel in der alten Heimat Wold Hill genannt hatten. Zuerst kamen die Lattens, William und Ella, beide inzwischen dicker und grauhaarig geworden. Ihr Sohn Willie jr. und seine Frau Rachel begleiteten sie. Ihnen folgte als kleine Gruppe Alden Mudden, Emery und Luca Blegg sowie die Hibbuts-Schwestem Jenny und Ruth. Als nächste kam Tommys Mutter Flora. Sie ging Arm in Arm mit der alten Ailie Tichner - der einzigen Bewohnerin von New Wolding, die älter war als Lewis. Ihr Ehemann Miles war im letzten Winter gestorben. Ihnen wiederum folgten Peter Skegland und seine Frau Gerda mit ihren beiden Töchtern Kate und Holly. Die Skegland-Mädchen wurden von Martin Tweedy begleitet. Nicht weit hinter ihnen tauchten Martins Eltern George und Susanna auf. Den Abschluß bildete Lily Spelkins, die in diesem Sommer dreiundsechzig wurde, aber immer noch so schlank und beweglich war wie ein junges Mädchen und manchmal mit den jüngeren Frauen tanzte, wenn Tommys Musik zu fröhlich wurde, als daß sie ihr widerstehen konnte.
    Sind nicht mehr viele von uns übriggeblieben, dachte Lewis, als er aufstand und sich zu Lily gesellte. Zwar waren alle alten Familien, die zuerst hierhergezogen waren, immer noch durch Abkömmlinge in den späten Zwanzigern vertreten, starben jedoch langsam, aber sicher aus. Sie hatten bestimmt noch ein langes Leben vor sich, aber Lewis mochte nicht an die Zeit denken, wenn niemand mehr da war, die alten Regeln weiterzugeben und nach ihnen zu leben.
    Es gab hier so wenige Kinder. In den letzten zehn Jahren war hier kein einziges mehr zur Welt gekommen. Viele hatten dem Dorf den Rücken gekehrt. Vier der zwölf Häuschen, aus denen das Dorf New Wolding bestand, waren schon geräumt und standen leer. Die restlichen Dorfbewohner benötigten nur noch eine der beiden großen Scheunen, um darin im Winter die kleiner werdende Viehherde unterzubringen und das überschüssige Korn zu lagern. Der einzige Platz des Dorfes, der in diesen Tagen wirklich Konjunktur hatte, war der Friedhof.
    »Ich liebe diese Jahreszeit«, meinte Lily. Als Lewis darauf nicht sofort antwortete, legte sie ihm die Hand auf den Arm und drückte ihn leicht. »Du grübelst zuviel, Lewis. Dadurch wirst du schneller alt.«
    Lewis schenkte ihr ein halbherziges Lächeln. »Und das darf doch nicht passieren, nicht wahr?«
    »Wenn Jango dieses Jahr nach Hause kommt, werde ich ihn bitten, dich ein wenig auf Trab zu bringen, Lewis. Alles ist erlaubt, was dich dazu bringt, die Nase in die frische Luft statt ständig in diese seltsamen Bücher zu stecken. Weißt du noch, wie wir immer zusammen spazierengegangen sind?«
    Lewis nickte. Das war, bevor seine Frau Vera gestorben war und sein Sohn Edmond das Dorf verlassen hatte, um nicht mehr zurückzukommen. Lewis hatte lange gebraucht, ehe er bemerkte, daß der Zusammenhalt so langer Zeiten dahinschwand. Bis zum Tod

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