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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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Pferd. Sein Fell war rötlichbraun und ähnelte mehr dem Fell des Rotwildes in den schottischen Niederungen als dem der hiesigen Weißschwänze. Gaffa, der sich zu Tommys Füßen ausgestreckt hatte, beäugte das riesige Wildtier mit verwundertem Blick, denn ähnlich einem Hirschkalb gab der Bock keine Witterung.
    Mit lautlosen Bewegungen trat der Hirsch weiter auf die Lichtung heraus und wandte sich dem Flötenspieler zu. Tommy ließ die Melodie ausklingen, und beide betrachteten sich in der anschließenden Stille.
    Dort drinnen lebt es, dachte Lewis. In diesem Hirschbock. Dieses Mysterium, das aus Tommys Musik herausklang - der Zauber, der die Menschen durch die Wälder der grauen Vorzeit, durch die sanften Hügel Arkadiens, durch die dunklen Forste von Europa, durch Englands lichte Laubwälder, durch die Wildnis im Osten von Nordamerika streifen ließ.
    Gleichgültig, in welcher Gestalt es auftrat, es war immer das gleiche Mysterium. Dieses Mysterium war es, dem ihre Vorfahren gefolgt waren, als sie den Atlantik überquerten, erkannte Lewis. Das Mysterium hatte die Küsten von England hinter sich gelassen und sich nach Westen gewandt, und sie waren ihm gefolgt.
    Die Musik, die Tommy spielte, war nur ein Abglanz, eine Erinnerung im Vergleich zu diesem Geschöpf. Es war ein Zwischending zwischen Magie und Dichtung, zwischen Verzauberung und Musik. Die Äste seines Geweihs waren die Äste des Lebens, und in seinen Augen stand die Schönheit der Welt - so betrachtet, als sähe man sie zum ersten Mal.
    So empfand Lewis das Tier - diesen königlichen Bock, der aus dem Irgendwoher von Tommys Musik angelockt worden war, von den Erinnerungen, die in seinen Weisen mitschwangen -, derselbe Lewis mit seinen Wänden voller Bücher und den Abertausenden von Seiten, die seine Augen studiert hatten. Die anderen sahen ihn sicher nicht wie er. Für sie war der Hirsch ein Wunder, ein Geschenk der Nacht und der Musik von Tommy. Das Spiel der Muskeln unter dem braunen Fell, während er langsam den Rand der Lichtung abschritt, war ein Echo auf ihren Tanz. Für sie hatte Tommys Musik Gestalt angenommen, damit alle sie sehen konnten.
    Dann plötzlich war aus der Ferne ein neues Geräusch zu hören. Das disharmonische Gebell von Hunden. Der Bock stieg auf die Hinterhand, sein Geweih schwenkte durch die Himmel. Einen Moment lang glaubten alle, die die Szene verfolgten, einen Mann dort stehen zu sehen - einen Mann, aus dessen Stirn ein Geweih wuchs - dann fiel der Bock auf alle viere zurück, setzte in eleganten weiten Sprüngen über die Wiese und verschwand lautlos im Wald.
    Das Bellen kam näher - bis Tommy erneut seine Flöte an die Lippen setzte und eine neue Weise blies: laut und wild wie Trompetenstöße. Ehe der letzte Ton verklang, war das Bellen verstummt, und die üblichen Nachtgeräusche drangen wieder durch den Wald.
    Lewis schloß die Augen und erschauerte. Als er sie wieder öffnete und zu dem Obelisken hinübersah, waren Tommy und sein Hund verschwunden - wie auch der Hirsch. Wie auch die Dorfbewohner bald verschwunden sein würden, denn sie formierten sich schon so, wie sie hergekommen waren - einzeln oder zu kleinen Gruppen.
    Lily blieb bei ihm stehen, eine Frage in den Augen. Doch Lewis schüttelte nur den Kopf. Er würde nicht eher zu seiner Hütte zurückkehren und die Wiese und den aufragenden Stein zurücklassen, bis er allein war.
    Anders als die übrigen konnte er die Dinge nicht einfach so hinnehmen, wie sie geschahen. Ihn quälten Fragen, während andere sich weder um die Fragen noch um die Antworten kümmerten. Was hatte den Bock hierhergebracht? Was unterschied die Nächte, in denen er auftauchte, von denen, in denen er nicht kam? Tommy spielte doch immer dieselben Weisen.
    In seinen Büchern fand er darauf keine Antwort. Auch jene, die er fragen konnte, hätten sicherlich keine Erklärung dafür gehabt. Selbst Tommys Musik oder das wunderliche Geschöpf, das sie herbeigerufen hatte, waren keine Antwort darauf. Ihm kam wieder seine nächtliche Besucherin in den Sinn, das Glühen, das er manchmal in ihren leicht mandelförmigen grünen Augen sah. In ihr würde er die Antwort finden, das wußte er. Nur wußte er ihr nicht die rechte Frage zu stellen. Für sie bedeutete ›Warum?‹ immer nur soviel wie ›Warum nicht?‹ Und das war Lewis nicht genug - war ihm nie genug gewesen.
    Als er nach Hause kam, zündete er die Lampe an, setzte sich mit dem Taschenbuch auf dem Schoß, das sie ›gefunden‹ hatte, an den

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