Grünmantel
Tisch und wartete auf das Kratzen an der Tür und ihr fröhliches ›’lo, Lewis‹. Doch als sie endlich kam, schlug er, anstatt mit ihr zu reden - über den Hirsch, über Tommys Musik, darüber, wer oder was sie überhaupt war -, sein anderes Buch auf und las ihr ein paar weitere Kapitel daraus vor. Und dann war sie wieder weg, verschwunden in derselben Nacht, die auch den Bock verschlungen hatte; und er war der Lösung dieser Rätsel keinen Schritt näher gekommen.
KAPITEL SECHS
Es war noch bestimmt eine gute halbe Stunde bis zum Einbruch der Dämmerung, als Valenti die Haustür hinter sich schloß und die Straße hinunterging. Die schwarzen Fliegen waren inzwischen verschwunden, doch hatten bei weitem mehr Moskitos ihren Platz eingenommen. Valenti überlegte kurz, ob er zurückkehren und sich ein Insektenschutzmittel holen sollte, doch wurde ihm die Zeit zu knapp. Bis es dunkel wurde, wollte er alles erledigt haben, um feststellen zu können, wer sich zeigte, ohne selbst gesehen zu werden. Wenn die Leute, die das Treasure-Haus beobachteten, dieselben waren, die auch ihn ausspioniert hatten, als er zum ersten Mal hierhergekommen war, würden sie zumindest die ersten Wochen jede Nacht wiederkommen.
Damals hatte Valenti geglaubt, die fratellanza habe ihn aufgespürt, doch als niemand Anstalten machte, ihn ins Jenseits zu befördern, verwarf er diesen Gedanken wieder. Aber er wußte immer noch nicht, was den stillen Beobachter zu seinem merkwürdigen Verhalten trieb. Wahrscheinlich Neugier, dachte er. Wer oder was dieser Beobachter auch immer war, in mancher Hinsicht verhielt er sich wie ein wildes Tier. Er selbst hatte ihn oder es immer nur schemenhaft gesehen, und nachdem er einmal den vergeblichen Versuch unternommen hatte, das Wesen aufzustöbern, war es nicht mehr in der Umgebung seines Hauses aufgetaucht.
Nicht zum ersten Mal fragte Valenti sich, ob es zwischen dem Beobachter und der Musik, die aus den Wäldern hinter seinem Haus herüberwehte, einen Zusammenhang gab, und grübelte darüber nach, ob er wohl der einzige war, der diese Musik hörte. Er kannte zu wenige Leute in der Gegend, um jemanden danach zu fragen. Es konnte ihm kaum daran gelegen sein, daß die Leute sich den Mund darüber zerrissen, wieso er solche Dinge hörte. Es hatte schon genug Gerede gegeben, daß er plötzlich statt weniger Wochen im Jahr nun ständig hier lebte. Doch war dieses Geschwätz rasch wieder verstummt, und er konnte sicher kein Interesse daran haben, sich den Leuten auf welche auch immer geartete Weise wieder ins Gedächtnis zu bringen.
Trotzdem machte ihn diese Musik mehr als nur neugierig - sie faszinierte ihn. Er dachte oft darüber nach, besonders im Winter, wenn sie nur selten zu hören war. Im Frühling war sie am häufigsten zu hören - im Frühling und an den langen Sommerabenden. Zum Herbstbeginn erklang sie seltener, und nach dem Erntedankfest war sie meist nur noch eine Erinnerung. Valenti schleppte zu viele Erinnerungen mit sich herum, doch wenn er an die Musik dachte, waren die anderen Erinnerungen leichter zu ertragen.
In der Nähe von Alis Haus schlüpfte er in den Wald rechts der Straße und arbeitete sich bis zu den Bäumen vor, die gegenüber der Rückseite des Hauses standen. Dort stand er eine Zeitlang und betrachtete das Gebäude und den Hinterhof. Rechts von ihm verwischten sich die Konturen der verfallenen Scheune zu einem dunklen Schatten. Hinter den erleuchteten Fenstern sah er Gestalten, die hin und her gingen. Insekten summten durch die Luft.
Die Dämmerung brach rasch herein und zeigte Haus und Hof noch einmal als hartes Relief, ehe sie in der Dunkelheit versanken. Nur über den Baumspitzen im Westen verharrte die Sonne einen Moment länger und versank schließlich dahinter. Die Luft war erfüllt vom frischen Duft der Frühlingsnacht.
Valenti arbeitete sich ein wenig näher an das Haus heran, blieb stehen und zog den Kopf ein. Ein flüsterndes Geräusch ... Es wehte durch die Dunkelheit - ein Hauch leiser Musik von schmerzlicher Süße. Valentis Griff um den Knauf des Spazierstock wurde hart, die Knöchel seiner Hand traten weiß hervor, und langsam ließ er sich zu Boden sinken. Heute nacht war die Musik der Flöte ganz anders als sonst.
Hör mich! rief sie ihm zu. Finde mich!
Valenti konnte nicht anders - er lehnte den Kopf gegen die rauhe Rinde des Baumes hinter sich und lauschte.
In ihrem Schlafzimmer, das zum Hof hinausging, war Ali damit beschäftigt, ihre Bücher in
Weitere Kostenlose Bücher