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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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von Lilys Ehemann Jevon hatte es im Dorf noch Leben gegeben.
    Jetzt war New Wolding mehr von Erinnerungen als von Lebendigkeit geprägt. Das Dorf trug den Hauch drohender Verödung in sich. Tommys Musik ließ einen dies vergessen - aber nur so lange, wie er spielte. Sie war nicht stark genug, um dem Dorf neues Leben einzuhauchen. Das tiefgehende alte Mysterium schien die Menschen nicht mehr zu durchdringen. Es hielt nicht länger die dunkle Meute im Zaum. Und eines Tages, viel zu bald, würde alles ...
    »Lewis!« Lily stieß ihm den spitzen Ellenbogen in die Rippen und holte ihn in die Wirklichkeit zurück - doch nicht, ehe er seinen letzten Gedanken zu Ende gedacht hatte: Eines Tages würde alles dahingegangen sein.
    »Es ist immer soviel, wie es uns unser Gefühl sagt«, sagte Lily, »das, was wir nehmen und was wir zurückgeben, Lewis. Gerade du solltest daran denken - denn du warst es, der mir das immer gesagt hat.«
    Lewis nickte. Die Musik kam nicht aus der Leere, noch verursachte sie eine Leere. Sie war ein Kanal zwischen ihnen selbst und dem Mysterium, das sich dahinter verbarg. Was sie in ihren Zuhörern erweckte, spiegelte nur das wider, was in ihnen selbst vorhanden war.
    »Du hast recht, Lily«, sagte er und ließ ihren Arm in seine Armbeuge gleiten. »Ich vergesse das immer wieder. Es ist wirklich so einfach.«
    Lily beugte sich zu ihm, gab ihm einen Kuß auf die Wange und zog ihn dann am Arm mit sich. »Komm schon, Lewis. Heute abend liegt was in der Luft. Ich glaube, ich möchte tanzen.«
    Lewis lächelte sie an. Arm in Arm eilten sie hinter den anderen her, von Tommys Musik magisch hingezogen zu der Wiese mit dem aufrecht stehenden Stein. Doch keiner außer Tommy betrat sie. Die Leute saßen oder standen in einem Halbkreis unter den Bäumen und beobachteten ihn beim Spielen. Der letzte Hauch Tageslicht huschte über ihn hinweg, und einen atemlosen Moment lang schien er zu glühen. Seiner Rohrflöte entlockte er ein Jubilieren, das der herannahenden Nacht mit einer Flut von köstlichen Tönen begegnete. Dann stahl sich die Dunkelheit herein, und die Musik wurde zu einem Freudentanz.
    Die zwei Hibbuts-Schwestern, beide schon in den Fünfzigern, waren die ersten, die aus den Schatten der Bäume hervortraten. Sie begannen zur Musik zu tanzen. Jenny hatte ihr graues Haar geöffnet. Es fiel ihr über die mageren Schultern, während sie sich im Rhythmus wiegte. Ruth, der die Jahre mehr zu schaffen machten, bewegte sich weniger schwungvoll. Kate und Holly Skegland tanzten als nächste, beide jung und geschmeidig, wenn auch nicht gerade graziös. Und dann ließ Lily Lewis stehen und gesellte sich zu ihnen.
    Denen, die unter den Bäumen standen und zusahen, schien es, als ob dort mehr als nur fünf der Ihren zu Tommys Musik tanzten. Die kleine Wiese schien angefüllt mit anderen tanzenden Gestalten, geisterhaften Schemen, die sich schwebend mit der Grazie von Elfen im Rhythmus wiegten. Sie tanzten einen Maireigen, der eher die Äpfel des Mondes als die der Sonne pflückte, silbrig und kühl.
    Lewis sah genauer hin und erkannte die kleine Gestalt seiner nächtlichen Besucherin unter den sich wiegenden Körpern. Ihr Tanz war katzenhaft wie das Spiel eines Luchses und nicht weniger fröhlich. Martin Tweedy ließ seine Eltern stehen und gesellte sich zu den Tänzern. Er nahm Holly und Kate an den Händen und drehte sich mit ihnen im Kreise. Lewis spürte, wie in ihm Freude erwachte, ein Gefühl der Erwartung und Hoffnung, einer wiederkehrenden Vitalität. Und dann wurde die Musik langsamer und traurig-süß.
    Die geisterhaften Schemen verschwanden, als die Musik das Tempo änderte. Die Tänzer setzten sich wieder zu den anderen unter die Bäume - alle außer einer Gestalt. Lewis sah sie katzenhaft ins Buschwerk hinter dem aufragenden Obelisken gleiten. Der hauchende Klang der Rohrflöte wurde eindringlicher, und ein kollektiver Seufzer lief durch die Reihen der Zuschauer.
    Alle anderen Nachtgeräusche verstummten, und schließlich hallte nur noch der Klang der Flöte durch die schweigenden Himmel über den Köpfen der Menschen. Keiner wagte sich zu rühren, alle hielten den Atem an. Es war dies ein Moment völliger Stille, in der nur das Trillern der Flöte zu den Sternen aufstieg - und in diesem Moment trat der Hirsch auf die Lichtung.
    Er war riesig, vom Geweih her zwar ein königlicher Zwölfender mit jeweils sechs Gabeln, doch mit den langgezogenen Nüstern und der Bauchlinie sah er eher aus wie ein kleines

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