Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
Vom Netzwerk:
alphabetischer Reihenfolge in das Regal einzuräumen. Sie hatte sie vor dem Umzug einfach in die Kartons geworfen und mußte nun dafür büßen. Bis S war sie inzwischen gekommen und durchwühlte die Bände von Thomas Burnett Swann. Wolfswinter war verschwunden. Sie hatte das Buch überall gesucht, konnte es aber nicht finden. Es war das einzige von Swanns Büchern, das sie noch nicht gelesen hatte. Der Band, den sie in einem Second Hand-Buchladen aufgestöbert hatte, ehe sie Ottawa verließen, war in einem schlechten Zustand gewesen. Trotzdem hatte sie sich darauf gefreut, ihn zu lesen.
    Das ist das Schlimme an Umzügen, dachte sie. Jedesmal, wenn sie woanders hinzogen, waren ein oder zwei Bücher verschwunden - meist ausgerechnet der zweite Band einer Trilogie oder ein Buch, das schwer zu kriegen war, wie beispielsweise dieser Swann-Titel. Voller Frust setzte sie sich ans halboffene Fenster und starrte durch die Scheibe hinaus in die Dunkelheit. Eine leichte Brise umspielte ihr kühl die Wangen.
    Auf ihrem Sony-Walkman lauschte sie einer Kassette mit ungarischer Geigenmusik von John Owczarek. Eine weitere Sache, die ihrer Mutter Sorgen bereitete: Alis Geschmack war ihrem eigenen zu ähnlich - und so gar nicht mit dem ihrer Altersgenossen zu vergleichen. Es hatte keinen Sinn, Frankie etwas anderes erzählen zu wollen. Das hatte Ali schon lange festgestellt. Ihre Mutter machte sich nun mal gern Sorgen über die verschiedensten Dinge.
    Die Kassette endete, und Ali nahm die Ohrhörer ab, löste den Walkman vom Gürtel und legte beides auf den Nachttisch neben ihrem Bett. Sie wollte gerade wieder darangehen, ihre Bücher einzusortieren, als sie die Musik vernahm, die von irgendwoher zu ihr drang.
    Sie kam nicht aus der Stereo-Anlage im Erdgeschoß. Ihre Mutter machte gerade ein Nickerchen, und von den Nachbarn konnte sie nicht stammen, denn es gab keine Nachbarn im näheren Umkreis. Woher kam die Musik dann? Und dann noch solche Musik? Fern, sanft - und trotzdem so unmittelbar, daß Ali glaubte, sie greifen, sie berühren zu können. Die Musik berührte das Mädchen und erweckte etwas in ihm, während es lauschte.
    Sie schaute aus dem Fenster - und hatte plötzlich das Gefühl, von den Wänden eingeengt, erdrückt zu werden. Sie huschte die Treppe hinunter und verließ das Haus durch die Hintertür. Sie wollte hören, wie die Musik draußen im Freien klang.

    Während Valenti kaum Träume hatte, ehe er ins Lanark County übersiedelte, war es bei Frankie genau umgekehrt. Ihre Nächte waren die reinsten Filmfestivals, in denen sich Träume bis zum Morgen aneinanderreihten. Das einzige, was ihnen fehlte, waren die Vor- und Abspänne.
    Ihre Träume waren so wirklichkeitsnah, daß sie manchmal die Erinnerungen und Gefühle, die sie in ihr erweckten, mit in ihr Tagleben nahm. Hatte sie zum Beispiel geträumt, daß Ali ihr gegenüber ungehorsam und böse gewesen war, behandelte sie das Kind nach dem Aufwachen dementsprechend. Ali, lieb, wie sie war, kannte solche Morgen zur Genüge und ging ihr dann nach Möglichkeit aus dem Weg. Trotzdem fühlte sich Frankie deswegen meist nicht weniger schuldbewußt.
    Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, nach dem Abendessen so tief zu schlafen, doch wirkte die Couch so verlockend weich und anziehend. Das muß an der vielen frischen Luft liegen, dachte sie, als ihre Augenlider so schwer wurden, daß sie sie nicht mehr offenhalten konnte und hinüberschlummerte. Aus dem Nickerchen wurde ein tiefer Schlaf. Frankie drückte sich enger an die Lehne, und im Traum begannen ihre Augen unter den geschlossenen Lidern wild zu rollen ...
    Von einem gestaltlosen Ort kommend, sah sie sich in der vorderen Diele des neuen Hauses stehend. Sie hörte, wie sich oben über ihrem Kopf etwas bewegte, etwas, das viel schwerer als Ali sein mußte. Doch soweit sie wußte, war Ali allein dort oben. Die Hartholzdielen erbebten unter schweren Schritten. Frankie grub die Zähne in die Unterlippe und schob sich langsam auf die Treppe zu.
    Sie stieg zum ersten Absatz hoch, und die ganze Zeit hörte sie, wie ein riesenhaftes Wesen im Obergeschoß hin- und herlief. Doch auf dem Flur war nichts zu sehen. Die Geräusche kamen aus Alis Schlafzimmer. Was machte sie da nur? Rückte sie etwa die Möbel herum?
    Leise ging sie den Flur entlang - und bemerkte aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Was zum Teufel ...? Etwas, das aussah wie ein Streichholz-Männchen, hüpfte die schmalen Stufen zum Dachboden hoch.
    Mit offenstehendem

Weitere Kostenlose Bücher