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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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wäßrigen Augen, das riesige Geweih, dessen Enden fast die Decke von Alis Zimmer berührten. Ali ...
    Der Bock rührte sich nicht. Vom Dachboden vernahm Frankie ein Scharren, als würden Ratten oder Eichhörnchen zu Dutzenden über den Boden jagen und mit ihren Krallen an den Dielen scharren. Frankie sah nach oben und trat einen Schritt zurück.
    Ich glaube, ich werde verrückt, dachte sie.
    Erst jetzt fiel ihr wieder ein, daß sie Alis Stimme im Zimmer gehört hatte. Sie hatte gehört, wie Ali mit jemandem schimpfte. Mit dem Hirsch etwa?
    Bitte, lieber Gott, das kann doch bloß ein Traum sein! Laß mich aufwachen - jetzt sofort.
    Das Scharren auf dem Dachboden wurde lauter, als ob die Ratten oder Eichhörnchen tanzten ...
    Panik schoß in Frankies Innerem hoch, die schiere Angst, die den Schock verdrängte, unter dem sie bis jetzt gestanden hatte. Tief in ihrer Brust formte sie sich zu einem Namen - den Frankie laut hinausschrie: »Allliiii!«

    Als sie den Aufschrei ihrer Mutter hörte, war Alis Furcht wie weggeblasen. Sie wandte sich von dem erleuchteten Fenster ab und drehte sich nach dem Bock um - nur um den Rasen leer vorzufinden. Sie war allein hier draußen. Aber dann ... Wieder hörte sie ihre Mutter schreien und eilte zum Haus hinüber.

    Valenti blinzelte ungläubig. Gerade noch hatte das Geschöpf dicht vor Ali auf dem Rasen gestanden, und jetzt war es verschwunden, und Ali rannte auf das Haus zu. Er drehte sich nach seiner ungebetenen Gefährtin um - nur um feststellen zu müssen, daß er ebenfalls wieder allein war.
    Die Flöte war verstummt. Dafür hörte Valenti ein anderes Geräusch, das wie das Gebell von Hunden klang. Und dann sah er, daß der Hirsch noch nicht verschwunden war. Er war jetzt an der Ecke des Hauses und jagte in weiten Sprüngen auf die Straße und den angrenzenden Wald zu.
    Wenige Augenblicke, nachdem der Bock aus dem Blickfeld verschwunden war, hetzte ein halbes Dutzend dunkler Schatten vorbei, die ihn offensichtlich verfolgten.
    Es sind Hunde - verdammt große Hunde, dachte Valenti. Und dann ließen ihn seine Augen offenbar im Stich. Einen Moment lang glaubte er nicht Hunde, sondern Menschen zu erkennen, die den Hirsch verfolgten, Männer in Mönchskutten oder Priestergewändern. Er blinzelte verblüfft - und sah die Hunde hinter dem Hirsch im Wald verschwinden.
    Valenti wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über die Stirn. Verdammt und zugenäht, was ging hier eigentlich vor? Wurde er vielleicht verrückt? Er sah nach oben, wo das Mädchen mit den ovalen Katzenaugen von den unteren Zweigen zu ihm herabgesprungen war, und wieder nach unten zu der Stelle, wo sie neben ihm gesessen hatte.
    War da überhaupt jemand gewesen? Die Musik, der Bock, das Mädchen ... Er erhob sich langsam und schüttelte den Kopf. Er fühlte sich so, als hätte er gerade ein schweres Fieber überstanden. Er sah zu Alis Haus hinüber und fragte sich, ob er hinübergehen und nach dem Rechten schauen sollte. Er erinnerte sich dunkel, einen Schrei gehört zu haben ...

    Ein Traum, dachte Frankie erleichtert, als sie abrupt auf der Couch erwachte. Sie war von ihren eigenen Schreien wach geworden, und alles war nur ein Traum gewesen. Sie setzte sich auf und schaute sich um. Der Hirsch in Alis Zimmer, die Streichholz-Männchen oder Eichhörnchen oder was immer sie gewesen waren, die auf dem Dachboden herumsprangen ...
    Sie schwang gerade die Füße auf den Boden, als Ali ins Wohnzimmer stürmte.
    »Mom!« Ali blieb wie angewurzelt stehen. »Mom ...«
    »Ich bin okay«, sagte Frankie. »Ich habe nur schlecht geträumt.«
    »Doch nicht etwa von ...«
    »Nein, nicht von dir«, beruhigte Frankie sie. »Zumindest nicht direkt. Komm her und nimm deine Mutter mal in den Arm.«
    Ali ließ sich neben Frankie aufs Sofa fallen und drückte sie. »Junge, Junge, da hast du aber wirklich was verpaßt«, plapperte sie. »Da war dieser Hirsch ... bei uns hinter dem Haus ... mit Hörnern ...«
    »Mit einem Geweih«, korrigierte Frankie sie mechanisch.
    »Egal. Aber du hättest ihn sehen sollen. Er war riesengroß!«
    »Ich habe ihn gesehen.«
    »Aber du hast doch gesagt ...«
    Frankie lachte. »Ich weiß. Ich habe gesagt, ich hätte geträumt. In meinem Traum hattest du diesen großen schweren Hirsch in deinem Zimmer versteckt. Ich hörte ihn oben herumlaufen, und als ich hinaufging und die Tür öffnete, starrte er mir direkt ins Gesicht.«
    »Das ist aber seltsam«, murmelte Ali.
    »Da hast du sicher recht, mein Schatz ...

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