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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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Mund starrte Frankie der verschwindenden Gestalt hinterher. Eine Katze, dachte sie zuerst. Oder ein Waschbär, der sich irgendwie ins Haus verirrt hat und mich kommen hörte ... Und doch hatte die Gestalt so gar nicht wie ein Tier ausgesehen. Sie war ungelenk und menschenähnlich gewesen - wenn auch nicht der Größe nach. Sie war etwa so groß gewesen wie ein kleiner Affe aus Zweigen.
    Ein lautes Krachen aus Alis Zimmer ließ Frankie herumfahren.
    »Jetzt sieh dir nur an, was du wieder angerichtet hast!« hörte sie Alis wütende Stimme.
    Ich glaube, ich drehe durch, dachte Frankie. Sie riß die Tür zu Alis Zimmer auf - und sah sich von Angesicht zu Angesicht einem riesigen Hirsch gegenüber.

    Noch ehe er das Knarren hörte, als die rückwärtige Verandatür geöffnet wurde, spürte Valenti den Wind. Er war ständig stärker geworden und raschelte leise in den Blättern der Bäume und dem vertrockneten Schilf. Die Jahre auf der Straße hatten dem Mann zu einem sechsten Sinn verholfen. Als er nun dort saß, den Wind spürte und dieser seltsamen Musik lauschte, die wie ein sanfter Atemhauch leise aus der Ferne herüberdrang, bemerkte er plötzlich wieder dieses Gefühl, eine Vorahnung, die die Nervenenden in seinem Rückgrat zum Zittern brachte.
    Und dann hörte er, wie die Verandatür geöffnet wurde, und sah Ali auf den dunklen Hof heraustreten.
    Sie hatte den Kopf geneigt, als lausche sie. Der Musik, natürlich. Valenti wurde schlagartig klar, daß auch sie sie hörte. Er wollte schon ihren Namen rufen, doch sein sechster Sinn, sein Jagdinstinkt, hinderte ihn daran. Da war was - irgend etwas ...
    Ihm wurde der Mund trocken, als er den Hirsch kein halbes Dutzend Yards von seinem Platz entfernt lautlos aus den Bäumen treten sah - ein schieres Wunder der Gegenständlichkeit in seiner Größe, seiner Lautlosigkeit. Valentis Puls begann zu hämmern, als das riesige Wildtier langsam und majestätisch auf den Rasenplatz hinter dem Haus heraustrat. Ali war dort drüben. Vielleicht würde der Bock verschreckt das Weite suchen, sobald er das Mädchen witterte. Es war aber auch möglich, daß er sie angriff. Valenti wollte aufspringen - und hörte plötzlich eine leise Stimme aus dem Baum über sich.
    »Nicht bewegen!«
    Er sah nach oben. Ovale Katzenaugen reflektierten den Lichtschimmer aus Alis Zimmerfenster.
    »Madonna mia« , stöhnte, er, doch die Worte blieben ein kaum hörbares mühsames Krächzen. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er sich nicht von der Stelle rühren können. Diese Augen hatten etwas mit ihm angestellt, hatten ihm jegliche Kraft aus den Beinen gesogen, so daß er nicht mal mehr stehen konnte. Sie hatten ihm die Stimme gestohlen, so daß er Ali keine Warnung zurufen konnte. Die ovalen Augen blitzten ihn an - und stürzten im nächsten Moment auf ihn herab.
    Der Träger dieser Augen landete katzengleich neben ihm. Lockiges Haar quoll unter der Krempe eines breitrandigen Hutes hervor und umrahmte ein fuchsähnliches schmales Gesicht. Die Augen waren nun sehr nahe, nur Inches von Valentis eigenen entfernt.
    Es ist doch nur ein Mädchen, dachte er, nur ein Kind. Aber ihre Augen waren nicht die eines Kindes. Sie waren uralt, und in ihnen stand alle Weisheit dieser Welt.
    »Schau hin«, sagte das Mädchen, lehnte sich zurück und deutete auf den Rasenplatz hinaus, wo sich der Hirsch Ali näherte.

    Der Bock trat zwischen den Bäumen hervor auf die Wiese. Ali stockte der Atem, und sie begann zu zittern - erst vor Aufregung, dann vor Furcht, als sie bemerkte, wie weit sie sich vom Haus entfernt hatte und sah, wie sich ihr der Hirsch mit jedem seiner zielgerichteten Schritte näherte.
    Jesus, wenn er sie nun angriff? Sie wich vor ihm zurück, doch plötzlich ragte der Hirsch direkt über ihr auf, und sie fürchtete sich zu sehr, um sich vom Fleck zu rühren. »B ... b ... braver Junge«, stotterte sie und schluckte schwer. »Guter Junge. G ... g ... ganz langsam jetzt ...«
    Der Bock senkte den Kopf, und sein Geweih schwankte bei der Bewegung. Dann schaute er hoch zu dem Licht, das aus ihrem Schlafzimmerfenster nach draußen fiel. Ali wollte den Blick nicht von dem Tier abwenden, folgte aber schließlich seinem Blick und sah einen kurzen Moment zu dem erleuchteten Rechteck hinauf.

    Frankie starrte den Hirsch an. Sie stand dicht vor ihm, und das Licht war so hell, daß sie jede Einzelheit genau erkennen konnte. Die breite schwarze Nase, die helleren Haare um das Maul, das struppige Fell an der Stirn, die

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