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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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Abend war kein ›Zusammenkunftsabend‹, und so stiegen nur die jungen Leute zum Stein hinauf, als Tommy mit seinem Spiel begann. Lily war zu Lewis herübergekommen, und zusammen saßen sie vor seiner Hütte und lauschten den leisen Flötentönen, die vom Wold Hill herunterschwebten. Sie sprachen nicht miteinander, denn Lewis hatte ihr schon vorher von den Warnungen seiner morgendlichen Besucherin mit den grünen Augen und dem Fuchsgesicht erzählt. Beide dachten sie darüber nach, wie die Welt dabei war, wieder eines ihrer Mysterien zu verlieren. Ihre Gedanken verliehen dem Abend eine bittersüße Würze.
    Es blieben doch nur noch so wenige Geheimnisse. Die Welt konnte es sich nicht leisten, jetzt auch nur ein einziges davon zu verlieren.

KAPITEL NEUN
    Am Samstagnachmittag saß Frankie auf der Bettkante. Kurz zuvor war sie nach oben gegangen, um sich zu duschen, und trug nur BH und Höschen. Zwanzig Minuten lang probierte sie verschiedene Röcke, Blusen und Kleider an, ohne sich darüber schlüssig zu werden, was sie am Abend tragen sollte.
    Man könnte meinen, ich sei so alt wie Ali und hätte mich zum ersten Mal verabredet. Nur daß Ali schon angekleidet war und unten auf sie wartete.
    Sie konnte sich nicht erklären, warum es ihr so wichtig erschien, welche Kleider sie heute abend trug. Nach allem, was sie von Ali gehört hatte, war Tony Garonne ein ziemlich lässiger Typ. Und Frankie lag ganz sicher nichts daran, ihn zu beeindrucken. Aber sie war schon lange nicht mehr ausgegangen, und selbst wenn dies nur ein Abendessen bei ihrem Nachbarn war, bot es doch die Gelegenheit, einmal etwas anderes zu tragen als die übliche Jeans und ein Arbeitshemd.
    Sie fuhr sich durch die feuchten Haare und wand sie um die Finger, um sie in Locken trocknen zu lassen. Ich hätte unter der Woche hinübergehen sollen, um ihn mir mal anzusehen, dachte sie, dann wäre ich jetzt nicht so nervös. Aber wie immer waren ihr tausend Dinge dazwischengekommen - es gab im Haus und draußen noch soviel zu tun -, und ehe sie sich versah, war es Samstagnachmittag und an der Zeit, sich für den Abend fertigzumachen. Was, wenn er sie danach fragen würde, was ihre Pläne waren - jetzt, da sie nicht mehr von acht bis vier bei der Regierung arbeitete?
    Sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte, aber es hörte sich immer schlimm und irgendwie aufgeblasen an, wenn sie jemandem zu erklären versuchte, daß sie die Zeit, die ihr nun aufgrund des Wintario-Gewinnes zur Verfügung stand, nutzen wolle, um herauszufinden, was sie mit ihrem weiteren Leben anfangen wollte. Das Wort Selbstfindung weckte in den achtziger Jahren so viele seltsame Assoziationen. Es hörte sich so nach ... Woodstock an. Da nutzte es auch nichts, daß sie tatsächlich Teil dieser Woodstock-Generation war.
    Sie seufzte. Und natürlich konnte das die ganze Situation noch schwieriger machen. Nach Alis Worten war Tony ungefähr zehn Jahre älter als sie selbst. Was, wenn er sie anzubaggern versuchte? Was, wenn sie keine Gemeinsamkeiten hatten? Was, wenn ...
    »Mom, was machst du denn da?«
    Sie sah auf. Ihre Tochter stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. Frankie lächelte verlegen und kam sich vor wie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose ertappt wird.
    Ali schüttelte den Kopf. »Weshalb bist du so nervös? Er ist doch nur ein ganz normaler Kerl.«
    »Wer sagt denn, daß ich nervös bin?«
    »Ich. Sieh dich doch an. Willst du etwa so gehen?«
    Frankie stand auf und drehte eine kleine Pirouette. »Was würdest du denn davon halten?«
    »Nun, du würdest ganz bestimmt Eindruck machen.« Ali duckte sich, als ihre Mutter das Kopfkissen nach ihr warf. »Soll ich dir beim Aussuchen helfen?« fragte sie und steckte den Kopf wieder durch die Tür.
    »Warum nicht?«
    Ali trat zum Kleiderschrank, wühlte in den Kleidern und nahm schließlich eins heraus. »Wie wär’s denn damit?«
    Es war ein schwarzes Abendkleid, mittellang, mit Ausschnitt und Schnürsenkel-Trägern. Frankie schüttelte unentschlossen den Kopf. »Ach, ich weiß nicht ...«
    »Komm schon, es steht dir großartig. Du kannst dein Sarah Clothes-Jackett darüber tragen, wenn du dir zu nackt darin vorkommst.« Sie reichte ihrer Mutter das Kleid und brachte ihr auch Slip und Strumpfhose. »Hast du immer noch das Rheinkiesel-Halsband mit der einzelnen Perle?« fragte sie.
    »Willst du mich etwa verkuppeln?«
    »Nun bleib mal endlich ernst, Mom!«
    Frankie zuckte mit den Schultern und betrachtete sich im Spiegel.

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