Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Zudringlichen mit den Erfolgen ihrer Zudringlichkeit prahlen, so wird jeder ahnen, wie rasch Lenis Ruf ruiniert war.
Der Verf. hat keineswegs Einblick in Lenis gesamtes Leibes-, Seelen- und Liebesleben, doch ist alles, aber auch alles getan
worden, um über Leni das zu bekommen, was man sachliche Information nennt (die Auskunftspersonen werden an entsprechender
Stelle sogar namhaft gemacht werden!), und was hier berichtet wird, kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als
zutreffend bezeichnet werden. Leni ist schweigsam und verschwiegen – und da hier nun einmal zwei nichtkörperliche Eigenschaften
aufgezählt werden, seien zwei weitere hinzugefügt: Leni ist nicht verbittert, und sie ist reuelos, sie bereut nicht einmal,
daß sie den Tod ihres ersten Mannes nie betrauert hat. Lenis Reuelosigkeit ist so total, daß jegliches »mehr« oder »weniger«,
auf ihre Reuefähigkeit bezogen, unangebracht wäre; sie weiß wahrscheinlich einfach nicht, was Reue ist; in diesem – und in
anderen Punkten – muß ihre religiöse Erziehung mißglückt sein |10| oder als mißglückt bezeichnet werden, wahrscheinlich zu Lenis Vorteil.
Was aus den Aussagen der Auskunftspersonen eindeutig hervorgeht: Leni versteht die Welt nicht mehr, sie zweifelt daran, ob
sie sie je verstanden hat; sie begreift die Feindschaft der Umwelt nicht, begreift nicht, warum die Leute so böse auf sie
und mit ihr sind; sie hat nichts Böses getan, auch ihnen nicht; neuerdings, wenn sie notgedrungen zu den notwendigsten Einkäufen
ihre Wohnung verläßt, wird offen über sie gelacht, Ausdrücke wie »mieses Stück« oder »ausgediente Matratze« gehören noch zu
den harmloseren. Es tauchen sogar Beschimpfungen wieder auf, deren Anlaß fast dreißig Jahre zurückliegt: Kommunistenhure,
Russenliebchen. Leni reagiert auf Anpöbeleien nicht. Daß »Schlampe« hinter ihr hergemunkelt wird, gehört für sie zum Alltag.
Man hält sie für unempfindlich oder gar empfindungslos; beides trifft nicht zu, nach zuverlässigen Zeugenaussagen (Zeugin:
Marja van Doorn) sitzt sie stundenlang in ihrer Wohnung und weint, ihre Bindehautsäcke und ihre Tränendrüsenkanäle sind erheblich
in Tätigkeit. Sogar die Kinder in der Nachbarschaft, mit denen sie bisher auf freundschaftlichem Fuß stand, werden gegen sie
aufgehetzt und rufen ihr Worte nach, die weder sie noch Leni so recht verstehen. Dabei kann hier nach ausführlichen und ausgiebigen,
aber auch die letzte und allerletzte Quelle über Leni erschöpfenden Zeugenaussagen festgestellt werden, daß Leni in ihrem
bisherigen Leben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im ganzen wahrscheinlich zwei dutzendmal einem Mann beigewohnt
hat: zweimal dem ihr später angetrauten Alois Pfeiffer (einmal vor, einmal während der Ehe, die insgesamt drei Tage gedauert
hat) und die restlichen Male einem zweiten Mann, den sie sogar geheiratet hätte, wenn die Zeitumstände es erlaubt hätten.
Wenige Minuten, nachdem es Leni erlaubt wird, |11| unmittelbar in die Handlung einzutreten (das wird noch eine Weile dauern), wird sie zum ersten Mal das getan haben, was man
einen Fehltritt nennen könnte: sie wird einen türkischen Arbeiter erhört haben, der sie kniefällig in einer ihr unverständlichen
Sprache um ihre Gunst bitten wird, und sie wird ihn – das als Vorgabe – nur deshalb erhören, weil sie es nicht erträgt, daß
irgend jemand vor ihr kniet (daß sie selbst unfähig ist zu knien, gehört zu den vorauszusetzenden Eigenschaften). Es sollte
vielleicht noch hinzugefügt werden, daß Leni Vollwaise ist, einige peinliche angeheiratete Verwandte hat, andere, weniger
peinliche, nicht angeheiratete, sondern direkte, auf dem Land und einen Sohn, der fünfundzwanzig Jahre alt ist, ihren Mädchennamen
trägt und zur Zeit in einem Gefängnis einsitzt. Ein körperliches Merkmal mag noch wichtig, auch für die Beurteilung männlicher
Zudringlichkeit von Bedeutung sein. Leni hat die fast unverwüstliche Brust einer Frau, die zärtlich geliebt worden ist und
auf deren Brust Gedichte geschrieben worden sind. Die Umwelt möchte Leni am liebsten ab- oder wegschaffen; es wird sogar hinter
ihr hergerufen: »Ab mit dir« oder »Weg mit dir«, und es ist nachgewiesen, daß man hin und wieder nach Vergasung verlangt,
der Wunsch danach ist verbürgt, ob die Möglichkeit dazu bestünde, ist dem Verf. unbekannt; hinzufügen kann er nur noch, daß
der Wunsch heftig
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