Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
der man eben jenen Ortsnamen lesen kann, im Hintergrund Klostermauern
sieht; Lenis Mutter, das kann man erkennen, fröstelt; auffallend ist die Mattigkeit ihrer Augen, die überraschende Festigkeit
ihres Mundes in einem nicht |26| gerade sehr vital wirkenden Gesicht; man sieht ihr an, daß sie nicht mehr leben möchte; würde man aufgefordert, ihr Alter
zu schätzen, geriete man in Verlegenheit und wüßte nicht zu sagen, ob es sich um eine durch ein geheimes Leiden übermäßig
gealterte Frau von etwa dreißig handelt oder um eine zartgliedrige Sechzigjährige, die sich eine gewisse Jugendlichkeit erhalten
hat. Lenis Mutter lächelt auf diesem Foto, nicht gerade mühsam, aber angestrengt.
Lenis Vater, ebenfalls kurz vor seinem Tod im Jahr 1949 als Neunundvierzigjähriger mit einer simplen Box fotografiert, lächelt
ebenfalls, nicht einmal andeutungsweise angestrengt; man sieht ihn in einem oft und sorgfältig geflickten Maurerarbeitsanzug
vor einem zertrümmerten Haus, in der linken Hand ein Brecheisen, von der Art, die Eingeweihten als »Klaue« bekannt ist, in
der rechten Hand einen Hammer, der Eingeweihten als »Fäustel« bekannt ist; vor ihm, links und rechts neben ihm, hinter ihm,
liegen Eisenträger verschiedener Größen, denen möglicherweise sein Lächeln gilt, wie das Lächeln eines Anglers seiner Tagesbeute.
Tatsächlich handelt es sich – wie ausführlich erklärt werden wird – um seine Tagesbeute, er arbeitete damals für jenen schon
erwähnten ehemaligen Gärtnereibesitzer, der früh die »Schrotthausse« roch (Aussage Lotte H.). Lenis Vater ist auf dem Foto
barhaupt zu sehen, er hat sehr dichtes, nur leicht ergrautes Haar, und es fällt sehr schwer, diesen hochgewachsenen, schlanken
Mann, dem sein Werkzeug so selbstverständlich in den Händen liegt, mit irgendeinem verbindlichen Sozial-Epitheton zu versehen.
Wirkt er proletarisch? Oder wie ein Herr? Wirkt er wie jemand, der eine ihm ungeläufige Arbeit tut, oder ist diese offensichtlich
harte Arbeit ihm vertraut? Der Verf. neigt zu der Meinung, daß beides zutrifft und beides in beiden Fällen. Lotte H.s Kommentar
zu diesem Foto bestärkt ihn, sie bezeichnet |27| ihn auf diesem Foto als »Herr Prolet«. Nicht einmal andeutungsweise sieht Lenis Vater aus, als sei ihm die Lebenslust vergangen.
Er sieht weder jünger noch älter aus, als er ist, ist ganz der »gut erhaltene Endvierziger«, der in einer Heiratsanzeige sich
anheischig machen könnte, »eine fröhliche Lebensgefährtin, möglichst nicht über vierzig, glücklich zu machen«.
Die vier weiteren Fotos zeigen vier männliche Jugendliche, alle so um die zwanzig, drei davon tot, einer (Lenis Sohn) noch
lebend. Zwei dieser jungen Männer zeigen auf den Fotos gewisse, nur ihre Kleidung betreffende Mängel: obwohl es sich um Kopfbilder
handelt, sieht man bei beiden so viel von der Brust, daß man deutlich die Uniform der Deutschen Wehrmacht erkennt, auf dieser
Uniform Hoheitsadler und Hakenkreuz, jene Symbolkomposition, die Eingeweihten als »Pleitegeier« bekannt ist. Es handelt sich
um Lenis Bruder Heinrich Gruyten und ihren Vetter Erhard Schweigert, die man – wie den dritten Toten – zu den Opfern des Zweiten
Weltkrieges zählen muß. Heinrich und Erhard sehen beide »irgendwie deutsch aus« (Der Verf.), »irgendwie« (Der Verf.) gleichen
sie beide sämtlichen auftreibbaren Bildern deutscher Bildungsjünglinge; vielleicht ist es deutlicher, wenn hier Lotte H. zitiert
wird, für die beide »Bamberger Reiter« sind, eine, wie sich später herausstellen wird, keineswegs nur schmeichelhafte Charakterisierung.
Sachlich festzustellen ist, daß E. blond, H. braunhaarig ist; daß beide ebenfalls lächeln, E. »innig und gänzlich unreflektiert
vor sich hin« (Der Verf.), lieb auch und ausgesprochen nett. H.s Lächeln ist nicht so ganz innig, in den Mundwinkeln ist bei
ihm schon eine Spur von jenem Nihilismus zu sehen, der gewöhnlich als Zynismus mißverstanden wird und für das Jahr 1939, in
dem die beiden Fotos aufgenommen worden sind, als ziemlich früh, ja fast progressiv gedeutet werden kann.
|28| Das dritte Verstorbenenfoto zeigt einen Sowjetmenschen namens Boris Lvović Koltowski; er lächelt nicht; das Foto ist die fast
schon graphisch wirkende Vergrößerung eines Paßbildes, das im Jahre 1941 in Moskau privat aufgenommen worden ist. Es zeigt
B. als einen ernsten, blassen Menschen, dessen auffallend hoher Haaransatz im
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