Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Knien teilnahm und hin und wieder Stichworte niederschrieb. Stenografie konnte sie nicht, hätte sie auch nie gelernt. Abstraktes
und Abstraktionen lagen ihr zwar nicht gänzlich fern, doch die »Hackschrift«, wie sie Stenografie nannte, mochte sie nicht
lernen. Ihr Bildungsweg hat auch aus Leiden bestanden, mehr Leiden der Lehrer als ihre eigenen. Sie absolvierte, nachdem sie
zweimal nicht gerade sitzengeblieben, sondern »freiwillig zurückversetzt« worden war, die Volksschule mit der vierten Klasse
und einem leidlichen, reichlich interpolierten |31| Zeugnis. Einer der noch lebenden Zeugen aus dem Kollegium der Volksschule, der fünfundsechzigjährige pensionierte Rektor Schlocks,
der auf seinem ländlichen Alterssitz aufgestöbert werden konnte, wußte zu berichten, daß Leni zeitweise sogar für die Abwimmelung
in die Hilfsschule angestanden hat; daß aber zwei Umstände sie davor bewahrten: die Wohlhabenheit ihres Vaters, die – wie
Schlocks nachdrücklich betont – nie direkt, nur indirekt eine Rolle spielte, und zweitens die Tatsache, daß Leni zwei Jahre
hintereinander als Elf- und Zwölfjährige den Titel »das deutscheste Mädel der Schule« gewann, der von einer rassekundigen
Kommission, die von Schule zu Schule ging, verliehen wurde. Einmal stand Leni sogar in der Auswahl für das »deutscheste Mädel
der Stadt«, sie wurde aber auf den zweiten Platz verwiesen von der Tochter eines protestantischen Pfarrers, deren Augen heller
waren als Lenis Augen, die damals schon nicht mehr so ganz hellblau waren. Konnte man etwa das »deutscheste Mädel der Schule«
auf die Hilfsschule schicken? Mit zwölf kam Leni auf eine von Nonnen geleitete höhere Schule, von der man sie bereits mit
vierzehn als gescheitert herunternehmen mußte; sie war innerhalb von zwei Jahren einmal saftig sitzengeblieben, einmal versetzt
worden, weil ihre Eltern das feierliche Versprechen abgaben, von dieser Versetzung nie Gebrauch zu machen. Das Versprechen
wurde gehalten.
Bevor Mißverständnisse entstehen, muß hier als sachliche Information eine Erklärung der mißlichen Bildungsumstände gegeben
werden, denen Leni unterlag bzw. unterworfen wurde. Es gibt in diesem Zusammenhang keine Schuldfrage , es gab nicht einmal – weder auf der Volksschule noch auf dem Lyzeum, das Leni besuchte – erhebliche Ärgernisse, lediglich
Mißverständnisse. Leni war durchaus bildungsfähig, sogar bildungshungrig oder |32| -durstig, und alle Beteiligten waren bemüht, ihren Hunger bzw. Durst zu stillen. Nur die ihr gebotenen Speisen und Getränke
entsprachen nicht ihrer Intelligenz, nicht ihrer Veranlagung, nicht ihrer Auffassungsgabe. In den meisten, man kann fast sagen,
in allen Fällen entbehrte der dargebotene Stoff jener sinnlichen Dimension, ohne die Leni nichts zu begreifen imstande war.
Schreiben z. B. bereitete ihr nie die geringsten Schwierigkeiten, obwohl bei diesem hochabstrakten Vorgang das Gegenteil zu
erwarten gewesen wäre, doch Schreiben war für Leni mit optischen, haptischen, sogar mit Geruchswahrnehmungen verbunden (man
bedenke die Gerüche verschiedener Tinten, Bleistifte, Papiersorten), und so gelangen ihr selbst komplizierte Schreibübungen
und grammatikalische Finessen; ihre Handschrift – von der sie leider wenig Gebrauch macht – war und ist kräftig, sympathisch
und – wie der pensionierte Rektor Schlocks (Auskunftsperson für alle grundsätzlichen pädagogischen Details) glaubwürdig versicherte – geradezu geeignet, »erotische bzw. sexuelle Erregung hervorzurufen«. Besonders
Pech hatte Leni mit zwei nah verwandten Fächern: Religion und Rechnen bzw. Mathematik. Wäre auch nur einer ihrer Lehrer oder
Lehrerinnen auf die Idee gekommen, schon der kleinen, der sechsjährigen Leni klarzumachen, daß der Sternenhimmel, den Leni
so liebte, mathematische und physikalische Annäherungsmöglichkeiten bietet, sie hätte sich nicht gegen das kleine und nicht
gegen das große Einmaleins gesträubt, das ihr so widerwärtig war wie anderen Leuten Spinnen. Die Nüsse, Äpfel, Kühe, Erbsen
auf dem Papier, mit denen man auf eine platte Weise einen Rechenrealismus zu erreichen sucht, blieben ihr fremd; es war keine
Rechnerin in ihr verborgen, gewiß aber eine naturwissenschaftliche Begabung, und hätte sie außer den Mendelschen Blüten, die
rot, weiß, rosa immer wieder in Schulbüchern und auf Tafeln auftauchten, etwas kompliziertere |33| genetische Vorgänge
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