Grusel Box: Drei Mystery-Thriller (German Edition)
sie hervor. Anna Beth starrte ihn an.
»Tut mir leid wegen Ihres Vaters«, sagte er. Die Folie fühlte sich an, als sei sie zehn Kilo schwer.
»Nun, wir haben es mehr oder weniger erwartet«, antwortete sie.
Man erwartet es nie , dachte Roby Snow. Wir wissen alle, was uns bevorsteht, aber tief im Herzen glaubt niemand von uns, dass es uns jemals passieren wird. Oder denen, die wir lieben.
Anna Beths Augen wurden feucht. Sie waren so hell wie die gefüllten Eier auf dem versilberten Tablett. Sie hatte ihr Samstagabendkleid an, dunkelblau mit weißen Rüschen. Die Sonntagssachen würde sie für das Begräbnis aufheben. Das war nur Recht so. Und dieses Kleid hier war mehr als gut genug, um Besucher darin zu empfangen.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Roby. »Weinen Sie nur, wenn Sie möchten. Ich werde es Ihnen nicht verübeln.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Tränen mehr.«
»Kann ich verstehen. Sie haben den Kummer rund um die Uhr. Wir anderen können kommen und gehen. Und wenn alles vorbei ist, wenn Ihr Vater, Gott hab ihn selig, begraben ist, müssen Sie alle hierher zurückkommen und noch weitertrauern. Die Trauer lässt einen nicht so schnell los, wenn es sich um die nächsten Verwandten handelt.«
Im Wohnzimmer gab Witwe Ridgehorn einen weiteren langen Klagelaut von sich, der allerdings etwas müde und schleppend klang, so als ob sie nicht mehr wirklich mit dem Herzen bei der Sache wäre.
»Arme Mom«, sagte Anna Beth.
Roby legte die Folie auf die Kücheninsel und rollte ein gutes Stück ab. Als er die Klarsichtfolie über die Klinge mit Wellenschliff zog, blieb er mit seinem Daumen an der scharfen Schneide hängen. Die Klinge schnitt in das Fleisch über seinem Nagel.
Er steckte den Daumen in den Mund. Das Blut schmeckte nach Bratensoße.
»Sind Sie okay?«, fragte Anna Beth.
»Ich werde es überleben«, sagte er.
Jemand war so klug gewesen, Papierservietten mitzubringen, die nun steril neben den Nachspeisen aufgestapelt waren. Er zog eine hervor und wickelte sie um seinen Daumen, der aufhörte zu bluten. Dann riss er die Folie ab, schwenkte sie in der Luft, damit die Ecken nicht zusammenklebten, und bedeckte damit den Schinken.
»Man darf nichts verderben lassen«, sagte er. »Ich weiß, sie können jetzt nicht viel damit anfangen, aber die Zeit wird kommen, wenn der Hunger hilft, die Trauer zu nähren.«
»Ja. Es ist schon länger her, dass Tante Iva Dean gestorben ist. Sie war die letzte in der näheren Verwandtschaft.«
»Damals waren Sie sieben. Ich kann mich erinnern, weil Sie damals in der zweiten Klasse waren und ein Junge Ihnen gegen das Schienbein getreten hatte. Sie hatten einen großen blauen Fleck.«
Anna Beths Gesicht verlor sich in Gedanken und wanderte in die Vergangenheit. Die Traurigkeit war vorübergehend daraus verschwunden. »Ja. Witzig, wie man sich wieder an solche Sachen erinnert. Ich hatte das ganz vergessen.«
»Es ist der Geruch«, sagte Roby.
»Häh?«
»Der Geruch. Sehen Sie diesen Süßkartoffelkuchen? Das ist Beverly Parsons’ Lieblingsrezept. Aber bei Trauerfällen ändert sie die Zutaten ein wenig ab. Sie verwendet Melasse statt braunem Zucker. Deshalb ist der Geruch von Melasse für mich mit Traurigkeit verbunden.«
»Das habe ich nie bemerkt. Ich habe bestimmt schon ein Dutzend von Beverlys Kuchen gegessen, wo sie doch unsere Nachbarin ist. Außerdem bereitet sie einen für jede Feier in der Kirche zu.«
»Es geht nicht darum, wie viele man davon isst, sondern wann man sie isst.«
Das Gespräch im Zimmer nebenan war lebhafter geworden. Anna Beths Cousine zweiten Grades mütterlicherseits fragte, wann das Begräbnis stattfinden würde. Die Cousine war Cindy Parsons, Beverlys Tochter und vielleicht eine zukünftige Schwägerin, weil sie in Alfred, den Sohn des Hauses, vernarrt war.
Roby schüttelte vor Verdruss den Kopf. Wo hatten die Leute nur ihre Manieren gelassen? Man brüllte nicht einfach los und fragte nach dem Zeitpunkt der Beerdigung, vor allem nicht in der engsten Familie. Man nahm die Lokalzeitung zur Hand und las den Nachruf wie alle anderen, oder wenn es wirklich nötig war, rief man im Bestattungsinstitut an und erkundigte sich. Wenn man nicht von Berufs wegen damit zu tun hatte, sprach man im Haus eines soeben Verstorbenen niemals vom Begräbnis. Es war ungefähr so, als ob man auf das Grab spuckte. Oder in die Gesichter der Hinterbliebenen.
»Anna Beth«, rief jemand aus dem Wohnzimmer. Es hörte sich an wie die älteste
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