Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
aber der schmeckte scheußlich. Koffeinfreier Kaffee dagegen schmeckte wie richtiger Kaffee. Man durfte sich nur nicht dabei erwischen lassen, wenn man ihn bestellte.
Ich hatte Leute, die koffeinfreien Kaffee bestellen, immer etwas mitleidig betrachtet und wollte jetzt nicht selbst so betrachtet werden. Wenigstens nicht von Leuten, die mich kannten. Das war der Grund, weshalb ich nachmittags meine Stammbar mied.
Ich trank also, an einem wackeligen Tischchen mit Resopalplatte sitzend, meinen koffeinfreien Espresso und rauchte eine Marlboro. Dann ging ich die fünf Häuserblocks zurück zu meiner Kanzlei.
Soweit ich wusste, sollte es ein ruhiger Nachmittag werden – es gab nur einen Termin. Mit Frau Cassano, die am darauf folgenden Tag wegen Misshandlung ihres Ehegatten vor Gericht stehen würde.
Der Anklage zufolge war der Arme seit Jahren jedes Mal, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, mit den übelsten Schimpfwörtern empfangen worden – elende Niete oder beschissener Hungerleider beispielsweise, wobei die noch zu den harmloseren gehörten. Jahrelang hatte er seinen gesamten Lohn, bis auf ein kleines Taschengeld für Zigaretten und andere Kleinigkeiten, bei seiner Frau abliefern müssen. Jahrelang war er vor den Verwandten und vor seinen wenigen Freunden beschimpft und gedemütigt worden. Wiederholt hatte er auch Schläge einstecken und sich ins Gesicht spucken lassen müssen.
Eines Tages hielt er es nicht mehr aus. Er fand den Mut, zu Hause auszuziehen, seine Frau anzuklagen und die Scheidung einzureichen – mit dem Antrag auf ausdrückliche Schuldzuweisung.
Die Signora hatte mich zu ihrem Anwalt auserkoren und an diesem Nachmittag erwartete ich sie, um noch einige Details hinsichtlich ihrer Verteidigung zu klären.
Als ich in mein Büro kam, erfuhr ich von Maria Teresa, dass die Hexe noch nicht da war. Stattdessen wartete, schon seit über einer halben Stunde, eine Farbige auf mich. Sie hatte keinen Termin, aber es ging – angeblich – um etwas sehr Dringendes. Wie immer.
Die Dame saß im Wartezimmer. Ich spickte durch die angelehnte Tür und gewahrte eine imposant wirkende junge Frau mit schönen, aber strengen Gesichtszügen. Sie war höchstens dreißig.
Ich bat Maria Teresa, sie in zwei Minuten zu mir hineinzuschicken und ging in mein Büro, zog die Jacke aus und setzte mich an meinen Schreibtisch. Die Frau trat ein, während ich mir eine Zigarette anzündete.
Sie nahm erst Platz, als ich sie dazu aufforderte, und sagte dann in akzentfreiem Italienisch grazie, avvocato . Bei ausländischen Klienten war ich immer im Zweifel, ob ich sie duzen oder siezen sollte. Viele verstehen nicht, wer gemeint ist, wenn man sie mit Sie anspricht, und das Gespräch bekommt dann leicht etwas Surreales.
Aus der Art, wie diese Frau grazie, avvocato sagte, begriff ich sofort, dass ich sie problemlos siezen konnte.
Als ich sie fragte, was sie zu mir führe, reichte sie mir einen Stoß zusammengehefteter Blätter mit den Überschriften »Amt des Ermittlungsrichters« und »Untersuchungshaftbefehl«.
Drogen, dachte ich sofort. Ihr Typ ist Drogenhändler. Aber eine Sekunde später dachte ich: Nein, unmöglich.
Wir denken alle in Stereotypen. Wer etwas anderes behauptet, lügt. Meine erste stereotype Assoziationsreihe war: Afrikaner, U-Haft, Drogen. Afrikaner werden überwiegend deshalb festgenommen.
Dann kam jedoch gleich das zweite Stereotyp ins Spiel. Diese Frau hatte etwas Aristokratisches und wirkte deshalb nicht wie die Frau eines Drogendealers.
Ich sollte Recht behalten. Ihr Freund war nicht wegen Drogenhandels, sondern wegen Entführung und Ermordung eines neunjährigen Kindes verhaftet worden.
Die in dem Haftbefehl aufgelisteten Anklagepunkte lasen sich kurz, bürokratisch und grauenvoll.
Dem senegalesischen Staatsbürger Abdou Thiam wurde vorgeworfen:
a. gegen § 605 Ital. StGb verstoßen zu haben, indem er den minderjährigen Francesco Rubino entführt, gegen dessen Willen festgehalten und mithin bewusst seiner persönlichen Freiheit beraubt hat;
b. gegen § 575 Ital. StGb verstoßen zu haben, indem er den Tod des minderjährigen Francesco Rubino durch nicht näher definierte Gewalteinwirkung und anschließendes Ersticken mit gleichfalls nicht näher definierten Mitteln herbeiführte; Tatort in beiden Fällen Monopoli, Tatzeit zwischen dem 5. und dem 7. August 1999.
c. gegen § 412 Ital. StGb verstoßen zu haben, indem er die Leiche des minderjährigen Francesco Rubino in einen Brunnenschacht warf,
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