Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Besuchstag.
Trotzdem ist das eigentlich kein Problem, denn man bekommt so gut wie nie einen Strafzettel. Kein Verkehrspolizist streitet gerne mit den Angehörigen eines Gefängnisinsassen; man könnte es auch noch allgemeiner ausdrücken: Kein Verkehrspolizist tut gern Dienst in der Nähe des Gefängnisses.
Kurz, ich parkte auf einem Gehweg im absoluten Halteverbot, stieg aus, rückte meinen Krawattenknoten zurecht, fischte eine Zigarette aus dem Päckchen, steckte sie mir in den Mund und ging, ohne sie anzuzünden, auf das Haupttor zu.
Der Mann an der Pforte kannte mich, so dass ich meinen Anwaltsausweis in der Tasche behalten konnte.
Ich durchquerte die üblichen Stahltore, Gittertüren und noch mehr Stahltore. Am Ende betrat ich das Zimmer, das uns Rechtsanwälten vorbehalten ist.
Ich bin mir sicher, dass für diesen Zweck in allen Haftanstalten eigens das Zimmer ausgesucht wird, das im Winter am kältesten und im Sommer am heißesten ist.
Es war Winter, und obwohl die Luft draußen mild war, herrschte in diesem mit nichts als einem Tisch, zwei Stühlen und einem ramponierten Sessel ausgestatteten Raum eine geradezu demütigende Kälte.
Rechtsanwälte sind in Gefängnissen nicht sonderlich beliebt.
Rechtsanwälte sind im Allgemeinen nicht sonderlich beliebt.
Während sie Abdou Thiam holen gingen, zündete ich mir meine Zigarette an und zog, nur um irgendetwas zu tun, seinen Haftbefehl aus der Aktentasche.
Ich las noch einmal, dass »sich dank der beeindruckenden Fülle des Beweismaterials, das gegen Thiam, Abdou gesammelt wurde, die beruhigende Gewissheit ergibt, dass nicht nur die Einschränkung seiner persönlichen Freiheit in der gegenwärtigen Phase des Verfahrens gerechtfertigt ist, sondern auch eine Verurteilung des Angeklagten bei Prozessende aller Wahrscheinlichkeit nach zu erwarten ist.«
Auf gut Deutsch: Alles sprach gegen Abdou, er war zu Recht verhaftet und eingesperrt worden und würde beim Prozess zweifellos schuldig gesprochen werden.
Noch während ich am Blättern war, wurde die Tür geöffnet, und mein Mandant von einem Vollzugsbeamten hereingeführt.
Abdou Thiam war ein ausgesprochen gut aussehender Mann. Er hatte das Gesicht eines Kinostars, tiefgründige Augen und einen traurigen, abwesenden Blick.
Er blieb an der Tür stehen, bis ich auf ihn zuging, ihm die Hand gab und mich als sein Anwalt vorstellte.
Ein Händedruck kann einem viel über einen Menschen sagen, wenn man darauf achtet. Abdous Händedruck sagte mir, dass er mir nicht traute, und dass er möglicherweise niemandem mehr traute.
Wir setzten uns auf die beiden Stühle, und mir war schnell klar, dass dieses Gespräch nicht einfach werden würde.
Abdou sprach gut Italienisch, wenn auch nicht so perfekt und nahezu akzentfrei wie Abadschadsche. Trotzdem duzte ich ihn wie selbstverständlich, und dasselbe tat er.
Die Frage, wie man ihn behandelte und ob er etwas brauche, war schnell abgehakt. Danach bemühte ich mich, seine Version der Geschichte zu erfahren, um einen Einblick in die Sache zu gewinnen, denn ich hatte seine Akte noch nicht studiert.
Abdou zeigte sich wenig kooperativ. Er sprach mit geistesabwesender Miene, sah mich nicht an, beantwortete meine Fragen ausweichend. So, als gehe ihn das alles gar nichts an.
Ich wurde rasch ärgerlich, auch weil ich merkte, dass sich hinter seiner absurden Unbestimmtheit ganz klar Feindseligkeit verbarg. Mir gegenüber.
Ich versuchte, meine Gereiztheit zu überspielen.
»Also, Abdou, pass mal auf. Ich bin dein Anwalt. Du selbst hast mich dazu ernannt.« Ich zog das Telegramm aus der Tasche, das mir die Gefängnisleitung am vorigen Tag geschickt hatte, und schwenkte es ein paar Sekunden in der Luft. »Und jetzt bin ich hier, um dir zu helfen, oder es wenigstens zu versuchen. Dazu brauche ich deine Unterstützung. Sonst komme ich nicht weiter. So weit alles klar?«
Er hatte bis zu diesem Moment völlig in sich zusammengesunken dagesessen, den Kopf nach vorn zum Tisch gebeugt. Jetzt richtete er sich auf und sah mir in die Augen.
»Ich habe das Telegramm nur geschrieben, weil Abadschadsche es wollte. Vielleicht versuchst du, etwas für mich zu tun, wie dieser andere Anwalt, vielleicht auch nicht. So oder so – ich komme hier nicht raus. Der Richter wird mich schuldig sprechen und verurteilen, das wissen wir alle. Abadschadsche glaubt, dass du anders bist als der andere Anwalt und etwas erreichen kannst. Ich glaube es nicht.«
»Hör mal zu, Abdou«, sagte ich, weiterhin
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