Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
verdächtige Machenschaften außerhalb des Lokals bemerkt. Über Drogen kann ich dir heute wirklich nichts sagen.«
»Warum sagst du ›heute‹?«
»Na ja, in meinem früheren Leben kam es schon mitunter vor, dass das weiße Pulver auftauchte. Einige meiner Kunden konsumierten es, und ich kannte auch ein paar Leute, die es verkauften, auch wenn ich es selbst nie genommen und schon gar nicht gekauft habe. In jedem Fall liegt das viele Jahre zurück. Ich habe diese Welt nur gestreift und bin heute ganz weit davon entfernt. Tut mir leid, dass ich dir nicht weiterhelfen kann.«
»Das macht nichts. Es war eine dumme Idee, typisch für einen Hobbydetektiv.«
Wir plauderten weiter, während das Lokal sich langsam leerte. Schließlich gingen auch die Angestellten, einer nach dem anderen, und am Ende waren nur noch wir beide übrig. Die meisten Lichter waren schon aus, aber die Musik spielte leise weiter. Sie holte Pino-Baskerville aus dem Auto und ließ ihn zu uns ins Lokal. Er schien sich an mich zu erinnern, denn er kam näher, ließ sich streicheln und legte sich dann unter unseren Tisch.
»Manchmal finde ich es schön, nach Geschäftsschluss allein mit Pino hierzubleiben. Dann verwandelt sich alles hier drin. Außerdem darf ich dann rauchen, denn wenn geschlossen ist, ist es kein öffentliches Lokal mehr. Dann ist es mein Zuhause, und ich kann tun und lassen, was ich will. Und Pino stört der Rauch nicht.«
»Darf ich eine unglaublich banale Bemerkung machen?«
»Raus damit.«
»Weißt du, dass ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen kann, dass man bis vor ein paar Jahren noch in Kneipen und Restaurants rauchen durfte? Ich finde es schwierig, mich noch daran zu erinnern, ich muss mir wirklich Mühe geben, wenn ich mir vergegenwärtigen will, dass es damals überall Zigaretten gab und die Luft oft unerträglich war. Es ist, als würde das Rauchverbot sogar meine Erinnerungen manipulieren.«
»Das habe ich jetzt nicht ganz verstanden.«
»Ich versuche es mit einem Beispiel. Heute Nachmittag saß ich in einer Bar und wartete auf jemanden. Als ich da saß, fiel mir ein, wie ich einmal vor vielen Jahren mit meinen Freunden dort gewesen war. Es war während meines Studiums und mindestens drei von uns rauchten damals. An jenem Nachmittag wurden bestimmt einige Zigaretten geraucht. Und doch erscheint mir diese Szene im Geist ohne die Zigaretten, so als hätte das Rauchverbot einen rückwirkenden Effekt.«
»Rückwirkender Effekt auf die Erinnerung. Du sagst schon merkwürdige Dinge. Aber sie gefallen mir. Warum hast du dich ausgerechnet an jenen Nachmittag erinnert?«
»Wir sprachen damals über Romane und Romanfiguren. Jeder von uns sagte, mit welcher Romanfigur er sich am meisten identifizierte.«
»Und du, welche Figur hast du genommen?«
»Kapitän Fracasse.«
»Würdest du den heute auch noch nennen?«
»Ich glaube nicht. Er ist zwar immer noch einer meiner Lieblingshelden, aber wenn wir heute dieses Spiel spielen würden, würde ich eine andere Figur nennen.«
»Und zwar?«
»Charlie Brown, das ist vollkommen klar.«
Sie musste loslachen, es brach aus ihr heraus wie eine kleine Explosion.
»Komm schon, sag mir die Wahrheit.«
»Charlie Brown, ich schwöre es.«
Sie hörte auf zu lachen und studierte mein Gesicht, um festzustellen, ob ich scherzte oder die Wahrheit sagte. Sie kam zu dem Schluss, dass ich es ernst meinte.
»Wir hatten gesagt, aus der Literatur.«
»Weißt du, was Umberto Eco über Schulz gesagt hat?«
»Was denn?«
»Ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr, aber der Sinn war ungefähr der folgende: Wenn man unter Poesie die Fähigkeit versteht, Zärtlichkeit, Mitgefühl und Bosheit auf das Niveau höchster Transparenz zu erheben, dann ist Schulz ein Poet. Und ich füge hinzu: Schulz ist eine Genie.«
»Und warum ausgerechnet Charlie Brown?«
»Wie du weißt, ist Charlie Brown der Prototyp des Losers. Seine Baseballmannschaft ist die, die immer verliert, die anderen Kinder sind gemein zu ihm, und er ist hoffnungslos verliebt in ein Mädchen – das rothaarige Mädchen –, mit dem er noch nie ein Wort gewechselt hat und die nicht einmal weiß, dass es ihn gibt …«
»Und was hat ein Loser wie Charlie Brown mit jemandem wie dir zu tun? Diesen Zusammenhang sehe ich nicht …«
»Moment, ich bin noch nicht fertig. Kennst du die Serie, wie er ins Ferienlager fährt und eine Papiertüte mit Löchern für die Augen auf dem Kopf trägt?«
»Nein.«
»In dem Moment, in dem Charlie
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