Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
damit identifizierst?«
»Ich denke schon. Auch wenn ich das nicht so gern herumerzähle. Ich bin eher zufällig Anwalt geworden, habe diese Arbeit als eine Notlösung angesehen, etwas beinahe Peinliches. Und es ist mir immer schwergefallen zuzugeben – auch mir selbst gegenüber –, wie sehr sie mir in Wirklichkeit gefällt.«
Sie lächelte wunderschön. Wie jemand, der dir wirklich zuhört. Sie sagte nichts, aber das war auch nicht nötig. Sie ermunterte mich weiterzusprechen.
»Wenn ich ehrlich bin, habe ich meine Arbeit immer mit einer gewissen Herablassung betrachtet. An der Uni habe ich mich für Jura eingeschrieben, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich hatte immer eine stereotype Vorstellung vom Anwaltsberuf und habe mir selbst das Recht versagt, stolz darauf zu sein. Ich hatte nie den Mut, diese kindliche Vorstellung vom Anwaltsberuf als etwas ethisch Zweifelhaftem zu korrigieren. Als einem Beruf für Gauner oder Streithähne.«
»Stimmt das denn nicht? Ich kenne eigentlich keine Anwälte außer dir.«
»Doch, oft ist es genau so. Dieser Berufsstand ist voller Scharlatane, Betrüger, Analphabeten und auch einiger Krimineller. Die auch unter den Richtern oder anderen Berufsständen nicht fehlen. Die Frage lautet jedoch nicht, ob es unter den Anwälten Schurken oder Unfähige gibt oder ob der Anwaltsberuf negative Aspekte der Intelligenz oder der Persönlichkeit besonders fördert.«
»Sondern?«
»Die Frage lautet: Ist es eine Arbeit, bei der man ein freier Mensch bleiben kann? Es ist eine Arbeit, die einem etwas geben kann … ich meine, es gibt wenig im Leben, was einem so viel geben kann wie der Freispruch eines Angeklagten, von dem man weiß, dass er unschuldig ist, der aber Gefahr lief, eine hohe Strafe oder gar lebenslänglich zu bekommen.«
»Ich war nicht unschuldig«, lächelte Nadia.
Stimmt. Technisch gesehen war sie nicht unschuldig. Sie hatte den Tatbestand der Förderung von Prostitution erfüllt, was bedeutete, dass sie hübsche Mädchen und reiche Herren einander zugeführt und dafür Geld kassiert hatte. Keiner war dazu gezwungen oder erpresst worden, keiner war dadurch geschädigt worden. Die Vorstellung, dass man für so etwas ins Gefängnis kommt, seiner Freiheit beraubt wird, ist mir mit der Zeit immer unerträglicher geworden.
»Ungerecht wäre gewesen, wenn sie dich verurteilt hätten. Du hast keinem geschadet.«
Ich hätte beinahe einen Satz zu viel gesagt. Etwas in der Art wie: Du hast vor allem Gutes getan. Was vielleicht nicht gerade elegant ist, wenn man es zu einer Ex-Prostituierten sagt, die früher die Arbeit anderer Prostituierter organisiert hat. Der Satz schoss mir durch den Kopf, durchquerte blitzschnell alle Neuronenbahnen und war schon auf der Schwelle meiner Lippen angelangt, als ich ihn im letzten Moment noch aufhalten konnte.
»Und du bist ein guter Anwalt.«
Der Tonfall, in dem sie das sagte, war genau in der Schwebe zwischen Frage und Feststellung.
»Ist das eine Frage?«
»Ja und nein. Ich meine, du bist gut, das weiß ich. Ich erinnere mich noch gut, wie der Richter hereinkam und das Urteil verlas. Ich hätte nie im Leben geglaubt, dass ich nach dem, was in den Abhörprotokollen stand, freigesprochen werden könnte.«
»Sie durften nicht verwendet werden, auf Grund eines Formfehlers, der …«
»Ja, ich weiß, ich erinnere mich noch an jedes Wort aus deinem Plädoyer. Aber ich dachte, das wäre einfach so dahingesagt, um zu zeigen, dass du dein Honorar wert bist. Ich war sicher, dass mich der Richter verurteilen würde, und konnte es gar nicht glauben, als er mich freisprach. Wie ein unerwartetes Geschenk.«
»Na ja, das ist wirklich gut ausgegangen.«
»Weißt du was?«
»Was?«
»Ich hätte dich gern umarmt in jenem Moment. Ich war kurz davor, doch dann dachte ich, dass ich spinne und dass ich dich nur in Verlegenheit bringen würde, und dann hab ich es natürlich sein lassen.«
Nach einer Pause sagte sie dann: »Jedenfalls war es eine Feststellung, aber auch eine Frage.«
»Was meinst du?«
»Hältst du dich für einen guten Anwalt?«
Ich antwortete nicht gleich. Dann atmete ich tief durch.
»Manchmal. Manchmal habe ich den Eindruck, dass meine Worte und Ideen und mein Verhalten haargenau richtig sind. Wenn ich mir die Mehrzahl meiner Kollegen ansehe, dann glaube ich, dass ich ziemlich gut bin, aber wenn ich einen abstrakten Maßstab ansetze, dann nicht. Ich fühle mich wie ein Hochstapler; ich bin unordentlich, uneffektiv,
Weitere Kostenlose Bücher