Gullivers Reisen
die man durch Gewaltthätigkeit oder Zufall erlange, wieder heile. Mein Vaterland werde von einem weiblichen Menschen, welcher Königin heiße, beherrscht; auf meiner letzten Reise sey ich der Befehlshaber eines Schiffes gewesen und habe fünfzig Yähus unter mir gehabt. Von diesen seyen viele zur See gestorben, so daß ich dieselben durch Andere aus verschiedenen Nationen hätte ersetzen müssen. Unser Schiff sey zweimal in Gefahr gewesen zu sinken, das erstemal durch einen heftigen Sturm, und das zweitemal durch einen Stoß gegen Felsen. Hier unterbrach mich mein Herr mit der Frage, wie ich Fremde von verschiedenen Ländern nach so vielen Verlusten und Wagnissen hätte überreden können, sich mit mir auf das Meer zu wagen. Ich sagte, es wären Leute in verzweifelten Umständen, welche gezwungen worden seyen, wegen Verbrechen oder Armuth aus ihrem Vaterlande zu fliehen. Einige seyen durch Processe zu Grunde gerichtet worden, Andere hätten all ihr Vermögen im Trinken, Spielen und anderen Ausschweifungen verschwendet; Andere seyen wegen Hochverrats, Andere wegen eines Mordes, Diebstahls, wegen Vergiftung, Raub, Meineid, Fälschung, Falschmünzerei, Nothzucht und wegen unnatürlicher Laster, wegen Desertion oder wegen des Ueberlaufens zum Feinde geflohen; die Meisten hätten Gefängnisse erbrochen. Keiner wage in sein Vaterland zurückzukehren, aus Furcht, gehängt zu werden, oder in einem Gefängnisse zu verhungern; deßhalb seyen sie gezwungen, ihren Lebensunterhalt an andern Orten sich zu erwerben.
Während dieser Unterredung hatte mein Herr mehrere Male die Güte, mich zu unterbrechen. Ich mußte häufige Umschreibungen gebrauchen, um ihm die Natur der verschiedenen Verbrechen darzustellen, wegen welcher ein Theil meiner Schiffsmannschaft gezwungen war, aus dem Vaterlande zu fliehen. Diese Arbeit erforderte ein Gespräch von mehreren Tagen, bevor er mich verstehen konnte. Er war durchaus nicht im Stande zu begreifen, wozu die Ausübung dieser Laster nothwendig und nützlich sey. Um ihm dieses klar zu machen, suchte ich ihm einen Begriff von dem Wunsche, Reichthümer und Macht zu erwerben, beizubringen; ferner auch von den furchtbaren Folgen der Wollust, Unmäßigkeit, der Bosheit und des Neides. Alles dies mußte ich durch Beispiele und durch erfundene Fälle ihm erläutern. Hierauf glich er einem Menschen, der über etwas früher nie Gesehenes und Gehörtes, von dem heftigsten Erstaunen ergriffen wird. Er erhob seine Augen mit Schrecken und Unwillen. Für Macht, Regierung, Krieg, Gesetz, Strafe und für tausend andere Dinge fand sich kein Ausdruck in jener Sprache; dadurch ward die Schwierigkeit, meinem Herrn einen allgemeinen Begriff von dem, was ich sagen wollte, zu geben, beinahe unüberwindlich. Da er jedoch einen ausgezeichneten und durch Ueberlegung, so wie auch durch Gespräch gebildeten Verstand besaß, erwarb er sich zuletzt ein competentes Urtheil über Alles, was die Menschennatur in unseren Welttheilen auszuführen im Stande ist; er bat mich deßhalb, ihm einen besonderen Bericht von dem Lande, welches Europa heißt, besonders aber von meinem Vaterlande zu geben.
Fünftes Kapitel.
Der Verfasser gibt seinem Herrn, auf dessen Befehl, einen Bericht über den Zustand von England. Die Ursachen der Kriege unter den europäischen Fürsten. Der Verfasser beginnt mit Darstellung der englischen Staatsverfassung.
Leser, du mußt gütigst in Acht nehmen, daß der folgende Auszug vieler Gespräche, die ich mit meinem Herrn hielt, den Inbegriff der wesentlichsten Punkte enthält, die ungefähr zwei Jahre lang zu verschiedenen Malen besprochen wurden. Seine Gnaden verlangte nämlich häufig eine genügendere Auskunft, nachdem ich in der Hauyhnhnm-Sprache größere Fortschritte gemacht hatte.
Ich stellte meinem Herrn so gut wie möglich den ganzen Zustand von Europa dar; ich sprach von Handel und Manufakturen, von Künsten und Wissenschaften, und die Antworten, die ich ihm auf alle Fragen gab, die bei den verschiedenen Gegenständen sich darboten, lieferten unerschöpflichen Stoff zum Gespräche. Ich werde hier jedoch allein die Hauptsache von demjenigen niederschreiben, was mein Vaterland betrifft, indem ich es so gut wie möglich ordne, wobei ich jedoch auf Zeit und andere Umstände wenig Rücksicht nehme, und mich allein streng an die Wahrheit halte. Es thut mir leid, daß ich kaum im Stande seyn werde, der Beweisführung und der Ausdrucksweise meines Herrn Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Beide
Weitere Kostenlose Bücher