Gullivers Reisen
Gebrauch verständlich; alsdann lud ich sie allein mit Pulver aus dem engen Schlusse meiner Pulvertasche, in welches kein Tropfen Seewasser hatte dringen können (kluge Seeleute pflegen sich stets mit einer solchen zu versehen). Zuvor ermahnte ich den Kaiser, nicht zu sehr zu erschrecken, und schoß dann in die Luft. Hier war das Erstaunen noch größer, als bei dem Anblick des Degens.
Hunderte fielen wie todt zu Boden, und sogar der Kaiser, obgleich er stehen blieb, konnte sich nicht so bald vom Schreck erholen. Ich lieferte meine Pistolen in derselben Weise wie meinen Degen aus, hierauf auch meine Pulvertasche mit den Kugeln, indem ich bat, die erstere vom Feuer entfernt zu halten, denn der kleinste Funken würde den Inhalt sogleich entzünden, und sein kaiserlicher Palast könnte alsdann in die Luft fliegen; ich überlieferte ferner meine Uhr, auf die der Kaiser sehr neugierig war, er befahl deßhalb zwei seiner größten Gardisten sie auf den Schultern herbei zu bringen, indem sie an einem Pfahle in der Art hing, wie Kärrner in England ein Bierfaß tragen. Er wunderte sich über ihr Geräusch und über die Bewegung des Zeigers, den er sehr gut erkennen konnte, denn das Gesicht jener Leute ist bei weitem schärfer wie das unsrige. Alsdann fragte er seine Gelehrten nach ihren Meinungen hierüber, welche, wie sich, der Leser leicht denken kann, auf sehr verschiedene Weise ausfielen; ich brauche sie wohl nicht zu wiederholen und konnte sie auch wirklich nicht ganz verstehen. Hierauf lieferte ich mein Silber- und Kupfergeld, meine Börse mit neun großen Goldstücken und einigen kleineren aus, mein Taschen- und Rasirmesser, meine silberne Schnupftabacksdose, meinen Kamm, mein Schnupftuch und Tagebuch. Die Pistolen und Pulvertasche wurden auf Wagen in die Vorrathshäuser Seiner Majestät gebracht; mein übriges Eigenthum wurde mir jedoch zurückgegeben.
Wie ich schon bemerkte, hatte ich noch eine besondere Tasche, die sie bei ihren Nachsuchungen nicht bemerkten. Hierin befand sich eine Brille (die ich wegen meines schwachen Gesichts bisweilen gebrauchen muß), ein Taschenperspektiv und einige andere Geräthe, die dem Kaiser von keinem Nutzen seyn konnten, weßhalb ich mich denn auch durch meine Ehre nicht für verpflichtet hielt, sie herauszugeben. Ich befürchtete nämlich, sie möchten verloren gehen oder verdorben werden, wenn ich sie überlieferte.
Drittes Kapitel.
Der Verfasser unterhält den Kaiser und den Adel beider Geschlechter auf eine sehr ungewöhnliche Weise. Die Vergnügungen des Hofes von Lilliput werden beschrieben. Der Verfasser erhält seine Freiheit unter gewissen Bedingungen.
Meine Sanftmut und mein gutes Betragen hatten den Kaiser und seinen Hof, so wie auch Heer und Volk im Allgemeinen so sehr gewonnen, daß ich anfing Hoffnung zu hegen, ich würde in Kurzem meine Freiheit erhalten; ich gab mir alle mögliche Mühe, diese günstige Stimmung zu unterhalten. Die Eingeborenen befürchteten allmählich weniger Gefahr; bisweilen legte ich mich nieder und ließ fünf oder sechs auf meinen Kopf; Knaben und Mädchen wagten zuletzt, Verstecken in meinem Haare zu spielen. Auch hatte ich schon ziemliche Fortschritte im Verständnis der Landessprache gemacht. Eines Tages hatte der Kaiser den Einfall, mich mit dem Schaugepränge des Landes zu unterhalten, worin sein Volk alle andern, die ich kenne, an Gewandtheit und Pracht übertrifft. Keines gefiel mir aber so sehr wie ein Seiltanz, welcher auf einem dünnen weißen Faden ausgeführt wurde, der ungefähr vier Fuß lang zwölf Zoll über dem Boden ausgespannt war. Ich nehme mir die Freiheit und des Lesers Geduld in Anspruch, hierüber ein wenig weitläufiger zu werden.
An dieser Unterhaltung wird nur von denjenigen mitgewirkt, welche sich um bedeutende Aemter und um die höchste Gunst bei Hofe bewerben. Von Jugend auf erlernen die Candidaten diese Kunst, sind jedoch nicht immer von adeliger Geburt oder durch Erziehung gebildet. Wenn ein höheres Amt vakant wird, entweder durch Tod oder Ungnade (letzteres geschieht öfter), so ersuchen fünf oder sechs Kandidaten den Kaiser in einer Bittschrift, Seine Majestät mit einem Seiltanz unterhalten zu dürfen. Wer am höchsten sprang, ohne zu fallen, erhält das Amt. Oft erhalten die dirigirenden Minister Befehl, ihre Geschicklichkeit zu zeigen, um den Kaiser zu überzeugen, daß sie ihre Fähigkeit nicht verloren haben. Der Finanzminister ( Flimnap ) besitzt das Privilegium, auf dem schroff gespannten
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