Gullivers Reisen
von den Piraten schon etwas entfernt war, bemerkte ich mit meinem Fernrohr mehrere Inseln im Südosten. Da der Wind günstig war, spannte ich mein Segel in der Absicht aus, die nächste dieser Inseln zu erreichen, und dies gelang mir nach ungefähr drei Stunden. Die Insel war felsig. Ich fand jedoch mehrere Vogeleier, schlug Feuer und entzündete einiges Heidekraut und trockenes Seegras, woran ich meine Eier röstete. Ich nahm kein anderes Mahl, denn ich war entschlossen, meine Lebensmittel so lange wie möglich aufzusparen. Die Nacht brachte ich unter einem Felsen zu, nachdem ich einiges Heidekraut als Lager ausgestreut hatte und schlief ziemlich ruhig.
Am nächsten Tage fuhr ich nach einer andern Insel und von dort nach einer dritten und vierten, indem ich abwechselnd mein Segel und meine Ruder brauchte. Den Leser will ich jedoch mit einer genauen Beschreibung meiner Noth nicht langweilen; ich begnüge mich mit der Bemerkung, daß ich am fünften Tage die letzte Insel, die ich sehen konnte, erreicht hatte. Sie lag süd-süd-östlich von den andern und in größerer Entfernung als ich glaubte, denn ich erreichte sie erst nach fünf Stunden. Ich mußte sie beinahe in der Runde umschiffen, bevor ich einen passenden Landungsplatz finden konnte; dieser bestand aus einer kleinen Bucht, welche nur dreimal so weit wie mein Boot war. Die Insel war überall felsig und hatte nur hin und wieder Rasenplätze, worauf wohlriechende Kräuter wuchsen. Ich nahm meine Lebensmittel aus dem Boot, erfrischte mich, brachte das Uebriggebliebene in eine Höhle, deren es mehrere auf der Insel gab, sammelte eine ziemliche Anzahl Eier auf den Felsen, so wie auch trockenes Seegras und verdorrte Kräuter, die ich am nächsten Tage anzünden wollte, um meine Eier so gut wie möglich zu rösten, denn ich hatte Feuerstein, Stahl, Zunder und Brennglas in der Tasche. Die ganze Nacht lag ich in der Höhle, in welcher ich meine Vorräthe verborgen hatte. Mein Bett bestand aus demselben Gras, das ich zur Feuerung bestimmt hatte. Ich schlief nur wenig, denn meine Seelenunruhe überwältigte meine Müdigkeit und verscheuchte den Schlaf. Ich überlegte, wie unmöglich es sey, mein Leben in einem so öden Orte zu erhalten, und welch elender Tod meiner wartete. Ich war so verdrossen und niedergeschlagen, daß ich kaum Muth genug besaß, mich vom Lager zu erheben; als ich nun mir ein Herz faßte, aus der Höhle zu kriechen, war es bereits schon lange heller Tag. Eine zeitlang ging ich auf den Felsen spazieren; der Himmel war gänzlich heiter, und die Sonne brannte so heiß, daß ich mein Gesicht abwenden mußte; plötzlich aber wurde sie auf solche Weise verdunkelt, daß ich sogleich dachte, dies könne durch Wolken nicht bewirkt seyn. Ich drehte mich um und erblickte einen großen schattigen Körper zwischen mir und der Sonne, der mir aus einer festen Substanz zu bestehen schien und sich auf die Insel zu bewegte; er schien ungefähr zwei Meilen in der Höhe zu betragen, und verbarg die Sonne sechs bis sieben Minuten. Ich bemerkte jedoch nicht, daß die Luft kälter, oder der Himmel dunkler wurde, als hätte ich unter dem Schatten eines Berges gestanden. Nachdem der Gegenstand dem Orte, wo ich stand, näher gekommen war, erkannte ich ihn als eine feste Substanz mit flachem und glattem Boden, der durch den Reflex der See einen sehr hellen Schein warf. Ich stand auf einer Höhe, ungefähr zweihundert Ellen vom Ufer entfernt, und sah, wie dieser ungeheure Körper beinahe in paralleler Richtung mit meinem Standpunkte dahin fuhr, und kaum eine halbe Stunde hoch über mir schwebte. Deßhalb nahm ich mein Taschenperspektiv zur Hand, und konnte deutlich sehen, wie eine Menge Leute an den Seilen, welche abhängig zu seyn schienen, sich auf und ab bewegten; was diese Leute jedoch beabsichtigten, konnte ich nicht bemerken.
Die natürliche Liebe zum Leben erweckte mir innerliche Freude, und ich faßte schon Hoffnung, dieses Abenteuer werde auf die eine oder andere Weise mich aus meiner verzweifelten Lage retten. Der Leser wird jedoch schwerlich mein Erstaunen sich denken können, als ich eine von Menschen bewohnte Insel erblickte, die, wie es schien, im Stande waren, dieselbe senken oder steigen, oder in gerader Richtung fortbewegen zu lassen. Da ich aber damals in keiner Stimmung war, über dieses Phänomen zu philosophiren, zog ich es vor, die Richtung zu beobachten, welche die Insel einschlagen würde. Einige Zeit schien sie nämlich stille zu stehen. Gleich
Weitere Kostenlose Bücher