Gun Machine
wurde benutzt, damit der Fall abgeschrieben werden konnte.
Tallow lehnte sich an die Wand, direkt neben den Fleck, wo Jim Rosatos Hirnmasse nicht ganz vollständig vom Putz gekratzt worden war. Fast hätte er gelacht.
Die Lieutenant ging auf Nummer sicher. Sie hatte ihm unter wüsten Drohungen befohlen, den Fall zu lösen. Doch sie hatte etwas in der Hinterhand behalten: Der einzige einigermaßen lebendige Detective, den ich auf den Fall ansetzen konnte, war ein nutzloser Kerl, der gerade seinen Partner verloren hatte und noch dazu unter einem unbehandelten Trauma durch den Schusswechsel litt. Oder noch besser: Wir hätten den Fall sowieso nicht durchbringen können; Tallow war beurlaubt, er hätte den Fall gar nicht bearbeiten dürfen.
Und in jeder Variante, die er sich ausdachte, schwang unweigerlich mit: John Tallow ist am Ende.
Wann hatte er die Chefin so bitter enttäuscht, dass es ihr dermaßen leichtgefallen war, ihm das Apartment 3A ans Bein zu binden und ihn damit im Hudson zu versenken, um beides aus den Augen zu haben? Zumindest bis zum nächsten Jahr, wenn sie einen hübschen, sauberen Kalender ohne Hunderte von ungelösten Mordfällen aufschlagen durfte.
Den ganzen Tag war Tallow wie ein braver kleiner Polizeiroboter kreuz und quer durch Manhattan getuckert und gesurrt und hatte dabei keine Sekunde nachgedacht. Vielleicht war er wirklich traumatisiert und wollte es nur nicht wahrhaben. Oder er bemerkte es nicht mal.
» Ich bin ein Idiot « , sagte er zu sich selbst.
Niemand meldete sich zu Wort, um ihm zu widersprechen.
Tallow machte einen weiteren Schritt auf den Treppenabsatz zu, vor die Stelle, wo Bobby Tagg zu Boden gegangen war. Bobbys Namen hatte er erst von Carman erfahren. Ansonsten wusste er immer noch nichts über ihn, außer dass er eines Tages, als seine Welt zusammengebrochen war, nur noch einen Weg gesehen hatte, dem Leben wieder einen Sinn aufzuzwingen– nackt und brüllend mit einer Schrotflinte durch den Hausflur zu rennen. Dazu brauchte es nicht unbedingt viel. In diesem Fall nur einen Brief, den man unter seiner Tür hindurchgestopft hatte.
Die Umgebung verschwamm vor Tallows Augen. Hinter dem Nebel bemerkte er, wie sich seine Kiefer verkrampften und sich eine Leere in seiner Brust ausbreitete.
Schnell widmete er sich dem Loch in der Wand der Nummer 3A. Mittlerweile war es zu einem türgroßen Eingang neben der eigentlichen Tür erweitert worden, deren ausgefeilte Schließmechanismen die Kollegen offenbar noch immer vor unlösbare Rätsel stellten. Irgendwer hatte halbherzig versucht, die Öffnung mit Absperrband abzuriegeln. Tallow ging in die Knie, um das Hauptzimmer durch einen Rahmen aus gelbem Band zu studieren. Doch zunächst schloss er die Augen und atmete durch die Nase ein. Er war hier, um seine Sinneserinnerungen an das Apartment aufzufrischen, ehe es gründlich auseinandergenommen wurde. Und in diesem ruhigen Moment, in dem er endlich einsah, dass er ein Mörder war, wollte er nur noch die Augen zumachen und die Luft eines Mördertempels inhalieren.
Sorgfältig riss der Jäger ein Zuckerpäckchen auf, das er vom Servierwagen eines Cafés geklaubt hatte, der unvorsichtigerweise im Freien gestanden hatte. Er schüttete sich die Kristalle in den Mund und saugte sie in den Hals.
Dann steckte er das leere Papier in die Tasche und wartete. Er wartete, bis der Zucker in seinen Muskeln Feuer entfachte und auf der Straße ein wenig mehr Ruhe einkehrte.
Tallow kauerte auf dem Boden und konzentrierte sich ganz auf seine Atmung und sein Gehör. Er wollte die Gerüche einfangen, die er bei seinen ersten Schritten im Apartment registriert hatte. Sie hatten sich zerstreut, geplättet von ECT s und verweht vom Luftzug, doch es war noch genügend übrig, um seine Sinneserinnerung zu aktivieren.
Nur leider konnte er längst nicht alle Gerüche identifizieren. Immerhin meinte er, mit einiger Sicherheit sagen zu können, dass in dem Raum Kräuter aufbewahrt worden waren. Tallow war ein Stadtkind, dem erst im frühen Teenageralter klar geworden war, dass Kräuter nicht dank der Segnungen der Wissenschaft in Retorten sprossen, doch er glaubte, Salbei zu wittern. Gras. Irgendetwas, das ihn entfernt an Root Beer erinnerte. Und noch etwas anderes, das er beinahe erkannte, das knapp außerhalb seines Blickfelds tänzelte wie ein Tier, das im Wald durch die Bäume huschte.
Vielleicht Tabak?
Der Jäger schob die Tasche auf die Hüfte und tastete mit der rechten Hand nach dem
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