Gurkensaat
Er war Neles Sohn und gut. Man muss schließlich nicht der biologische Vater sein, um ein Kind liebevoll aufzuziehen.«
»Sicher, das stimmt. Allerdings sollten die leiblichen Eltern nach der Scheidung das Sorgerecht gemeinsam wahrnehmen. Ein Vater aus der Ferne wäre an allen Entscheidungen beteiligt. Sie hätten sich beugen müssen.«
»Ach, das wäre irgendwie gegangen. Johannes behielt ja Annabelle. Über kurz oder lang hätte sich das Problem von allein erledigt«, entgegnete Mühlberg selbstbewusst.
»Angenommen, Sie würden Vater eines zweiten, eigenen Kindes werden – meinen Sie nicht, dass sich die Situation dadurch grundlegend hätte verändern können? Dass sich Ihre Gefühle anders verteilt hätten?«, bohrte Skorubski hartnäckig weiter.
»Keine Ahnung. Vielleicht«, murmelte der junge Mann nachdenklich. »Aber auf der anderen Seite war Maurice ganz selbstverständlich mein Sohn! Was auch immer Sie mir da Schreckliches unterstellen wollen, lassen Sie sich gesagt sein, Sie sind auf dem Holzweg! Ein Mordmotiv müssen Sie bei jemand anderem suchen!« Er reckte den Kopf und funkelte Skorubski kampflustig an.
»Ich kann die Entscheidung der Ärzte nicht verstehen. Ich durfte nur übers Telefon ein paar Worte … Sehen Sie, Annabelle würde mich sicher um sich haben wollen!«
»Sie ist in guten Händen. Die Ärzte werden alles tun, um ihr zu helfen, den Schock zu überwinden. Und morgen dürfen Sie bestimmt zu ihr.«
»Wenn ich mir vorstelle, dass sie ihren Bruder …« Nele Hain wimmerte und schlug sich die Hände vors Gesicht. Plötzlich hob sie ihren Blick und fixierte Nachtigall scharf. »Wenn Sie tatsächlich glauben, jemand könnte meinen Kleinen umgebracht haben, dann sitzen Sie hier nicht so untätig rum! Fangen Sie dieses Monster!«
»Waren Sie schon einmal im Haus der Familie Gieselke?« Skorubski beobachtete, wie Mühlberg die Tassen auf ein Tablett stellte und die Kaffeemaschine in Gang setzte.
»Selbstverständlich. Ich war sogar sehr oft dorthin eingeladen. Mehrfach durfte ich sogar die Semesterferien bei Johannes verbringen.«
Diese Antwort hatte der Kriminalbeamte nicht erwartet. Sein Gesicht musste wohl völlige Verblüffung widergespiegelt haben, denn Mühlberg grinste. »Ich weiß genau, was Sie jetzt denken! Was für eine Familie! Die treulose Gattin mit Mann und Liebhaber unter einem Dach. Skandalös! Fast so schlimm wie damals in der Kommune 1.«
Ganz so drastisch hätte er das vielleicht nicht formuliert, überlegte Skorubski und räumte im Stillen eine deutliche Nähe zu seinen eigenen Gedankengängen ein.
»Sehen Sie – ich war ein Freund des Hauses. Johannes und ich kannten uns schon vor seiner Hochzeit mit Nele. Wir verlebten einen Großteil unserer Freizeit zu dritt. Manchmal verbrachte ich, wie gesagt, die Semesterferien im Hause Gieselke. Kurz nach der Eheschließung wurde Annabelle geboren. Ganz selbstverständlich übernahm ich auch Babysitterpflichten. Und irgendwann entwickelte sich meine Beziehung zu Nele.«
»Unter dem Dach des Freundes!«
Richard Mühlberg feixte wieder. »Wenn Sie das so sehen wollen. Eigentlich begann es schleichend, wir haben erst gar nicht bemerkt, wie wir uns immer mehr ineinander verliebten.«
»So wie Sie das erzählen, klingt es, als sei es aus Versehen passiert«, kritisierte Skorubski.
Mühlberg verschränkte die Arme vor der Brust und maß den Ermittler mit geringschätziger Miene. »Könnte es sein, dass Ihre Vorstellungen von Moral und Anstand ziemlich antiquiert sind?«
6
»Es tut mir so furchtbar leid, Junge.« Olaf Gieselke legte seine schlaffe Hand auf den Unterarm des Sohnes.
»Wie war das nur möglich?«, wisperte Johannes und kämpfte mit den Tränen. Er stand vor der versiegelten Tür des Arbeitszimmers seines Vaters. Er wusste genau, was dahinter zu finden war. Ein riesiger Blutfleck und eine gezeichnete Konturlinie auf dem Boden, dort, wo Maurice gelegen hatte.
»Ich weiß es nicht.«
»Und ihr habt nicht einmal den Schuss gehört?«
»Nein.«
»Aber so ein Schuss ist unglaublich laut! Ich verstehe das nicht!«
»Ohrstöpsel für mich und ein Musikprogramm über Ohrhörer für deine Mutter. Aber sie hat dann ja doch gemerkt, dass etwas nicht stimmt.«
»Etwas nicht stimmt? Maurice ist tot! Ihr habt euch hingelegt und tief geschlafen, während hier mein Sohn getötet wurde!« Johannes Gieselkes Stimme überschlug sich zitternd.
Betreten zog sein Vater die Hand zurück. »Es gab keinen Grund, das
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