Gurkensaat
gelte es, ihr Leben gegen etwas Großes und Übermächtiges zu verteidigen.
Es dauerte lange, die kleine Patientin zu beruhigen.
9
Donnerstag
Noch bevor Peter Nachtigall am nächsten Morgen seinen Wagen parken konnte, klingelte sein Handy.
»Oh, guten Morgen, Dr. Pankratz. Sie sind schon bei der Arbeit? Und fühlen sich einsam im Angesicht des Todes. Hm. Dieses Todes. Das kann ich sehr gut nachvollziehen, wie Sie wissen. Ja, ich verstehe schon, da kann nur einer mehr Abhilfe schaffen. Bin so gut wie auf dem Weg!«
Rasch stellte er die Verbindung zu Albrecht Skorubski her. »Guten Morgen. Dr. Pankratz hat angerufen«, informierte er den Freund. »Er hat doch ein empfindsames Herz. Jedenfalls möchte er nicht nur mit dem Kollegen die Leiche des Jungen obduzieren. Ich fahre hin – allein. Ihr fangt in der Zwischenzeit mit der Liste an. In etwa zwei Stunden treffen wir uns im Büro!«
Als er den Wagen vom Parkgelände rollen ließ, murmelte er kopfschüttelnd: »›Ich brauche Beistand bei der Sache. So etwas belastet mich‹. Ha! Einen solchen Satz hat Dr. Pankratz in all den Jahren noch nie gesagt!«
»Warum fährt er jetzt doch allein?«, fragte Michael Wiener im Büro verblüfft.
»Weil er uns den Anblick ersparen will!«
»Aber wir sin ein Team!«, protestierte der junge Kollege. »Einer für alle un alle für einen!«
»Eben!«, antwortete Skorubski trocken.
Dr. Pankratz, der hagere Rechtsmediziner aus Potsdam, erwartete den Kriminalhauptkommissar bereits. Sie nickten sich zur Begrüßung zu und Nachtigall nahm Schürze und Haube, die ihm der Gerichtsmediziner hinhielt. Er fuhr auch in ein Paar Handschuhe, denn er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass Dr. Pankratz unberechenbar sein konnte und im Eifer der Wissensvermittlung manchmal auch von ihm erwartete, hier und da zu drücken oder anzufassen.
Der kleine Körper lag auf dem blitzenden Edelstahltisch, der durch seine leichte Fracht überdimensioniert wirkte. Die Arme und Beine des Jungen waren dünn, noch ohne ausgeprägte Muskulatur, seine Rippen deutlich zu erkennen, der Bauch leicht gewölbt. Maurice’ Schlüsselbein stach spitz gegen die Haut über der Schulter, ein schmaler Hals war zu erkennen – Nachtigall zwang sich, auf das zu sehen, was einmal Kopf und Gesicht des Jungen gewesen war.
Ungewöhnlich ernst erklärte der Rechtsmediziner, während er mit seinem langen, knochigen Zeigefinger auf den blutigen Kopf deutete: »Diesmal kann ich wirklich sagen, dass es schnell ging. Wahrscheinlich hat er gar nicht mehr mitbekommen, was nach dem Knall passiert ist. Der erste Treffer war tödlich. Insgesamt wurden drei Schüsse auf den Kopf des Jungen abgegeben. Ich habe den Schädel röntgen lassen.«
Er klemmte die Aufnahme unter die Leiste des Schaukastens und schaltete das Licht des Schirms an. »Die Kugel trat oberhalb der rechten Augenhöhle durch das Os frontale ein und durch den hinteren Bereich des linken Os parietale wieder aus. Durch die Wucht wurden einige Knochenfragmente regelrecht aus dem Körper des Jungen herausgesprengt.«
Nachtigall spürte, wie seine Knie gegeneinanderschlugen.
»Das bedeutet: Die erste Kugel durchschlug den Kopf vom Stirnbein bis zum linken Hinterhauptsbein.« Der Rechtsmediziner fuhr den Schusskanal mit einem Kugelschreiber nach. »Daraufhin muss er zu Boden gestürzt sein. In Bauchlage. Die beiden anderen Schüsse wurden auf das liegende Kind abgegeben. Sie durchschlugen das Os occipitale, durchdrangen die dorsalen Hirnabschnitte und traten in Höhe des Jochbeins links wieder aus. Dabei zertrümmerten sie den Orbitalboden, das Os zygomaticum und Os maxillare. Im Bereich des linken Oberkiefers sind alle knöchernen Strukturen zerstört.«
Dr. Pankratz musterte Nachtigall prüfend. »Geht’s noch?«, fragte er beinahe mitfühlend und der Hauptkommissar nickte schwankend mit zusammengebissenen Zähnen. »Der Täter hat zwischen den Schüssen seine Position verändert. Der erste Einschusswinkel legt nahe, dass er zum Zeitpunkt der Schussabgabe kniete oder auf dem Boden hockte, während der Junge stand. Danach muss der Schütze aufgestanden sein, um die beiden anderen Schüsse abzugeben. Mit aufgesetzter Waffe.«
»Warum sollte sich der Täter hinknien, um das Kind zu erschießen?«, polterte Dr. März, der gerade den Saal betreten hatte. Nachtigall bemerkte, dass der Staatsanwalt nicht nahe genug an den Tisch herantrat, um den Körper sehen zu können.
»Vielleicht kniete er vor einer
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