Gurkensaat
Schublade oder einem Schrank. Als der Kleine dazukam, riss er die Waffe hoch und drückte ab«, schlug der Gerichtsmediziner vor.
»Oder er ging in die Hocke, um mit dem Jungen zu sprechen, ihm zu erklären, es sei alles in Ordnung. Als Maurice das nicht glauben wollte und drohte, die Großeltern zu wecken, beschloss der Fremde, das Kind zu töten«, meinte Nachtigall und räusperte sich. »Dann schoss er noch zweimal, um sicher zu sein, dass der Junge wirklich tot war.« Ihn schauderte. Als er in Dr. Pankratz’ Gesicht sah, hatte er den Eindruck, dem Rechtsmediziner ginge es ähnlich.
»Wer erschießt so kaltblütig einen Sechsjährigen?« Dr. März war fassungslos. »Ich habe wahrhaftig schon viele Menschen hier liegen sehen – aber ein durch mehrere gezielte Schüsse getötetes Kind noch nie!«
»Was war so wertvoll, dass dieser Junge dafür sterben musste?« Nachtigall hörte selbst, wie gepresst seine Stimme klang.
»Nehmen Sie alle Hinweise der Obduktion ernst und dann gehen Sie los und finden es raus!«, bellte Dr. März und machte auf dem Absatz kehrt. Grußlos verließ er den Obduktionssaal. Seine energischen Schritte waren rasch verklungen.
Nachtigall zuckte mit den Schultern und Dr. Pankratz zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Na, dann wollen wir mal.«
Der Hauptkommissar bohrte sich den Autoschlüssel in den Oberschenkel, als der Gerichtsmediziner mit dem Skalpell den Y-Schnitt über dem Brustkorb ansetzte. »Sechsjähriger Knabe, altersgerecht entwickelt in gutem AZ und EZ«, diktierte er, sah flüchtig in Nachtigalls verständnisloses Gesicht und murmelte »Allgemein- und Ernährungszustand.«
10
Nele Hain weinte. Um Maurice, um Annabelle, um sich.
Richard Mühlberg bemühte sich schweigend, sie zu trösten. Er spürte, dass jedes Wort, das in dieser Situation überhaupt verwendet werden könnte, ein Wort zu viel gewesen wäre, und womöglich nur Ärger nach sich gezogen hätte. Also beschränkte er sich darauf, Nele zu umarmen und verständnisvoll ihre Hände zu drücken.
Was hätte er auch sagen sollen, überlegte er, ein lapidares ›Es tut mir leid‹ wäre wohl kaum das Richtige gewesen. Natürlich tat es ihm leid. Ja, irgendwie schon. Er würde den Jungen vielleicht sogar ein bisschen vermissen. Maurice war lebenslustig und fröhlich gewesen, immer zu Spaß und Unsinn aufgelegt. Dass sein glucksendes, ansteckendes Lachen nie mehr zu hören sein würde, war sicher für alle schwer vorstellbar.
Auf der anderen Seite: Nele war schwanger. Erwartete ein Kind von ihm. Möglicherweise auch einen Jungen, mit dem er bald toben und spielen könnte. Nüchtern betrachtet schien ihm, der Verlust von Maurice sei zu verschmerzen. Immerhin konnte man doch nicht ausschließen, dass Maurice Johannes immer ähnlicher geworden wäre – auch äußerlich. Und er, Richard, wäre in jeder Sekunde daran erinnert worden, dass Nele eine Frau ›aus zweiter Hand‹ war, ausgespannt dem besten Freund. Dieser seltsam verklemmte Polizist hatte gar nicht so unrecht. Maurice war der permanent anwesende Beweis dafür!
Ein großer Nachteil der aktuellen Entwicklung war der Einfluss, den sie auf seine Planungen nehmen würde. Nele versank in Trauer, ausgerechnet jetzt, wo sie so viel zu entscheiden hatten. Mit ein bisschen Glück bekäme sie sich bald wieder in den Griff.
Richard seufzte. Hoffentlich kam sie jetzt nicht auch noch auf die Idee, Annabelle überreden zu wollen, sie nach Quebec zu begleiten, schoss ihm ein neuer, ausgesprochen unangenehmer Gedanke durch den Kopf.
»Wie können Oma und Opa nur schlafen gehen und die Kinder sich selbst überlassen!«, schluchzte Nele.
Richard schreckte aus seinen eigenen Überlegungen auf. »Möchtest du nicht doch einen Toast? Oder einen neuen Kaffee?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht nach Frühstück!«
»Schau mal, bei uns sind die beiden auch prima klargekommen. Und wir haben sie nun wirklich nicht jede Sekunde im Blick gehabt.«
»Aber die Großeltern waren verantwortlich! Das ist was anderes. Als Eltern glaubst du doch, dass sie sich in diesem Fall besonders intensiv um die Kinder kümmern!«, kreischte Nele und Tränen schossen über ihre Wangen.
»Hast du schon auf der Station angerufen?«, wechselte Richard Mühlberg zu einem anderen Aspekt der tragischen Entwicklung.
»Ja. Selbstverständlich. Die Ärztin, eine Frau Dr. Junkers, meinte, wenn ich am späten Vormittag vorbeikäme, wäre das in Ordnung. In Ordnung! Nichts ist mehr in Ordnung!«
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