Gurkensaat
Nach einer langen Pause fuhr sie fort: »Sie hat gesagt, ich solle mir nicht allzu viel von dem Besuch versprechen. Annabelles Zustand sei unverändert.«
»Hat sie dir sagen können, wie lange solch ein Schock anhält?«
»Das ist wohl sehr individuell. Sie glaubt, Annabelle habe womöglich den Mörder gesehen.«
»Gesehen?« Alle Farbe wich aus Mühlbergs Gesicht. »Dann kann sie ihn unter Umständen sogar identifizieren?«
Nele Hain war von der heftigen Reaktion ihres Partners irritiert. »Ja. Das ist denkbar. Sie müsste nur ihre Sprache wiederfinden, dann …«
»Verstehst du denn nicht?«, fiel Mühlberg ihr ins Wort. »Dann schwebt Annabelle doch in größter Gefahr!«
Die Mutter starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Warum sollte jemand meine Kinder töten wollen, Richard?«, flüsterte sie. »Ich habe niemandem etwas getan – von Johannes einmal abgesehen. Nie!«
»Hoffentlich hat die Polizei an diese Möglichkeit gedacht!« Mühlberg begann, nach dem schnurlosen Telefon zu suchen, hob alte Zeitungen an, kramte unter den Sitzpolstern. »Das Beste ist, wir fragen direkt bei diesem Kommissar nach. Die müssen einen Beamten zu Annabelles Schutz abstellen! Wie hieß der gleich noch mal? Nachtigall?«
Nele nickte müde. »Vielleicht ahnt der Mörder nicht, dass sie ihn beobachtet hat.«
»Nun, wenn das so ist, hat sie unwahrscheinliches Glück gehabt! Ahhh! Da ist es ja!« Mühlberg hielt triumphierend das Telefon in die Höhe.
Es klingelte.
Als Richard Mühlberg gereizt die Tür aufriss, sah er direkt in die Gesichter von Michael Wiener und Albrecht Skorubski.
11
Peter Nachtigall durchquerte die Grünanlage des Klinikums mit raumgreifenden Schritten. Eine fahle Sonne stand am Himmel, schien ohne wärmende Kraft. Er zog den Schal fester um den Hals. Von fern war eine elektrische Säge zu hören, die Schäden des nächtlichen Unwetters mussten beseitigt werden.
»Es wirkt alles so unaufgeregt und friedlich hier«, murmelte er vor sich hin. »Eine Mordermittlung scheint völlig fehl am Platz.« Er ging zügig weiter. »Wohin passt schon eine Mordermittlung?«, schimpfte er lauter und entgegenkommende Passanten zuckten erschrocken zusammen. »Wir wissen noch nicht, ob es ein Mord war.« Nun flüsterte er sich wieder beruhigend zu. »Ich kann mir einen Mord an einem kleinen Kind sowieso nicht vorstellen. Will ich auch nicht!«
Doch die Worte des Rechtsmediziners kreisten unerbittlich durch seine Gedanken. Drei Schüsse. Gezielt. Zwei davon aus unmittelbarer Nähe. Er atmete tief durch und trat durch das große gläserne Eingangsportal in die Empfangshalle.
Frau Dr. Junkers begleitete ihn über die Station. »Sie hatte eine unruhige Nacht. Wir haben sehr lang gebraucht, um sie nach einem Traum zu beruhigen. Vielleicht sollten Sie wissen, dass sie dabei von einem schwarzen Mann gesprochen hat, den sie gesehen haben will.«
»Den Täter?«
»Diese Worte müssen in keiner Weise mit der Tat in Zusammenhang stehen. Es kann irgendeine Erinnerung sein.« Lebhafte Bewegungen unterstrichen ihre Jugendlichkeit. Sie trug Jeans und eine gestreifte Bluse, die dunklen Haare waren zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Wahrscheinlich, überlegte Nachtigall, wollte die Ärztin ihre Patienten nicht durch einen weißen Kittel verschrecken.
»Der Kindsvater deutete gestern an, er habe die Trennung von seiner Frau nicht gewollt. Das spricht für einen Rosenkrieg. Opfer sind meist die Kinder. Wer weiß, wen das Mädchen mit dem schwarzen Mann gemeint hat.«
»Aber die Möglichkeit, dass sie den Täter gesehen hat, besteht durchaus! Eine Aussage wäre für uns ungeheuer wichtig.«
»Bis auf den Schrei im Schlaf schweigt sie beharrlich. Kein Wort. Zu niemandem. Sie werden Geduld brauchen. Abgesehen davon ist es fraglich, ob Annabelle sich überhaupt an die Ereignisse dieses Nachmittags erinnern kann. Oft werden solch traumatisierende Vorgänge schlicht verdrängt. Sollte dieser ›schwarze Mann‹ tatsächlich existieren, kann sie sich womöglich im Traum an ihn erinnern. Das bedeutet nicht, dass das Mädchen auch in wachem Zustand Zugriff darauf hat. Erinnerung kann man nicht so einfach beschleunigen oder erzwingen.« Sie musterte ihren Begleiter und meinte: »Sie sind auch ein schwarzer Mann.« Dabei hob die Ärztin ihre Arme, um anzudeuten, wie viele Interpretationsmöglichkeiten sich für diese Äußerung ergeben könnten.
Sie hatten das Zimmer erreicht. »Und schicken Sie Ihren Beamten zum
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