Gut und richtig leben mit dem inneren Schweinehund
eine Liste mit moralisch bedenklichen Verhaltensweisen vor, von »die Eltern verachten« über »im Kaufhaus eine Kleinigkeit stehlen« bis zu »Schwarzarbeit« und sogar »Euthanasie«. Interessant ist, dass die Zahl derjenigen, die derartiges Verhalten ablehnen, tendenziell steigt. Gaben im Jahr 2000 noch 65 Prozent der Befragten an, dass man die eigenen Eltern unter keinen Umständen »verachten« darf, so vertraten im Jahr 2004 schon 71 Prozent diese Meinung, im Jahr 2007 sogar 79 Prozent.
Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre, Angaben in Prozent Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 10 002, März 2007 http://www.ifd-allensbach.de/pdf/prd_0709.pdf
Handgreiflichkeiten gegenüber der Polizei lehnten 1990 erst 40 Prozent der Befragten ab (nur Westdeutsche), 1994 waren es dann 53 Prozent der Bevölkerung, 2007 bereits 75 Prozent. »Im Laufe der 80er Jahre hatten zahlreiche Menschen ihre Einstellung gegenüber |31| dem Gewaltmonopol des Staates relativiert«, erklären die Sozialforscher. Seit den 90er Jahren bis heute sei »die Einsicht in den Sinn des staatlichen Gewaltmonopols inzwischen wieder erstaunlich groß geworden«.
Auf der Liste der nicht geduldeten Verhaltensweisen stehen neben dem Autofahren unter Alkoholeinfluss (76 Prozent) oder der Ablehnung von Drogen (74 Prozent) vor allem auch der Sozialbetrug, also wenn jemand unberechtigt Krankengeld, Arbeitslosengeld oder andere soziale Vergünstigungen in Anspruch nimmt. Hier sagen 71 Prozent: »Das darf man auf keinen Fall.« Mitte der 90er Jahre waren erst 64 Prozent der Befragten dieser Meinung.
Werte weltweit
Erweitern wir nun die Perspektive. Wie steht es um die Entwicklung der Werte weltweit? Dieser Frage geht die sogenannte Weltwertestudie (WWS) in regelmäßigen, über zwei Jahre laufenden Wellen nach. Die jüngste Studie zeigte, dass traditionelle »Bindungswerte« wie Religiosität, Nationalstolz, Autorität, Gehorsam und Unantastbarkeit der Ehe zunehmend hinterfragt und neue »Entfaltungswerte« immer mehr gelebt und gezeigt werden: Freiheit, Protest, Toleranz, Autonomie und Vertrauen in Mitmenschen.
Der gemessene Wertewandel basiert einerseits auf der steigenden Lebenserwartung, andererseits auf sozioökonomischen Veränderungen, die sich in der steigenden Bedeutung des Wissens und des technologischen Fortschritts in der Arbeitswelt manifestieren.
Wie sieht es in den einzelnen Ländern aus? Emanzipation beschreibt zwar die generelle Tendenz aller postindustriellen Gesellschaften, dennoch gibt es erhebliche Unterschiede. In den USA etwa bleiben Bindungswerte stärker bestehen als in vergleichbaren Gesellschaften. Auch in Japan erfolgt die Hinwendung zu Entfaltungswerten vergleichsweise langsam. Schweden lebt Werte wie Toleranz, Fantasie, Eigenständigkeit und Freizügigkeit am stärksten |32| vor, gefolgt von den skandinavischen Nachbarländern Norwegen, Finnland und Dänemark. Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande zeigen eine Balance zwischen Bindungs- und Entfaltungswerten. Russland allerdings entwickelt sich gegensätzlich – hier verstärkt sich der Trend zu Bindungswerten.
Die tendenzielle Abkehr von Bindungs- und die Hinwendung zu Entfaltungswerten führe aus der Konformität heraus in die Emanzipation, erklärte Christian Welzel, Professor für Sozialwissenschaften an der International University Bremen, der die jüngste Studie (2006) auf einer Tagung der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) vorstellte. Je stärker sich eine Gesellschaft Entfaltungswerten zu- und von Bindungswerten abwende, umso größer werde die Freiheit der individuellen Lebensgestaltung. 4
Wenn Menschen in großer Freiheit leben, werden sie wenig gemaßregelt, kontrolliert und sanktioniert. Umso wichtiger wird es dann, dass sich jeder Einzelne selbst »im Griff« hat – also nicht blind seinen Affekten folgt oder Lust- und Unlustgefühlen (kurz: dem Schweinehund) nachgibt.
Dies ist ein Grund für die Renaissance der von den Allensbacher Sozialforschern gemessenen Werte in Deutschland. Die Befragten empfinden diese Werte derzeit nicht als moralisches Korsett. Sie sprechen sich vielmehr aus freien Stücken dafür aus.
Genau genommen handelt es sich hier gar nicht um Moral, sondern um Tugenden. Doch was genau heißt Tugend?
|33| Tugend statt Moral
Die Moral wird von außen an den Menschen herangetragen. Je mehr Moralin sie enthält, desto mehr vergällt sie sein Leben. Wer die Moral betrachtet, der hat es
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