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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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ein hoher Beamter des Auswärtigen Amtes ihn heute im Büro aufgesucht hatte.
    »Schön, schön«, lachte Hermann. »Baumann hat mir erzählt, dass sein Vater nach dem Krieg ein bisschen durch den Wind war und sie ihn dort behandelt haben. Ein ziemlich irritierendes Gewerbe, oder?«
    »Ja, sie haben vielen Soldaten geholfen«, sagte Thomas. »Tatsächlich habe ich gehört, sie hätten eine Auszeichnung vom Kriegsministerium bekommen.«
    »Alles schön und gut, aber wir haben noch viel zu tun«, wandte sich ein baumlanger SA-Mann, hinter dem Höfgen sich anscheinend zu versteckten suchte, sichtlich ungehalten an Hermann. »Vielleicht plauderst du ein andermal mit diesem falschen Piefke?« Er machte einen Schritt zurück, und jetzt stand der Bezirkswachtmeister direkt vor Thomas. Höfgen schaute ihn an, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
    »Da wir gerade von Juden reden, mich interessierte deine Meinung zu dem Mord in Paris«, sagte Hermann ungerührt, fuhr mit der Hand durch die Luft und reckte den Mittelfinger unmittelbar vor dem Gesicht des Hünen in die Höhe. »Vielleicht ist es an der Zeit, auch gegen die Franzosen etwas zu unternehmen?«
    »Das ist gewiss eine schreckliche Sache, eine große Schande für alle Juden. Und was die Franzosen anbelangt, das sind Dinge, die unser Führer mit Umsicht zu regeln wissen wird«, erwiderte Thomas.
    »Glaub mir, diese Nacht ist die große Schmach der Juden«, flüsterte Hermann. Sein Lächeln hatte sich noch tiefer eingegraben, doch in seinen Augen tanzte kalter Spott. Und da dämmerte Thomas die bestürzende Erkenntnis, dass Hermann ihn nicht zufällig hier und jetzt angesprochen hatte. Jahrelang hatte er ihn geflissentlich übersehen und kein Wort mit ihm gewechselt, weder im Guten noch im Schlechten, und ausgerechnet in dieser Nacht hatte er beschlossen, ihn anzusprechen.
    »Und vielleicht auch für ihre Freunde«, setzte Hermann hinzu, »denn manche Deutschen scheinen die Reichsgesetze nicht ernst zu nehmen.« Das hochmütige, scheinbar gönnerhafte Lachen war aus seinem Gesicht gewichen, und die blitzenden Augen taxierten Thomas jetzt voller Hass. »Sagtest du nicht, du hättest es eilig, nach Hause zu kommen?«
    Thomas’ Blick blieb erneut auf Höfgen ruhen. Höfgen steckte in der Klemme, kein Zweifel. Die Augen des Wachtmeisters irrten umher, als wollten sie Thomas klarmachen, dass er keine Wahl gehabt habe.
    Abrupt kam Thomas die Erkenntnis, dass Hermann und seine Rotte ihm schaden wollten oder – schlimmer noch – ihm bereits geschadet hatten.
    In einiger Entfernung hinter ihnen war jetzt eine starke Explosion zu hören, und jenseits der Häuserzeile schossen bläulich-orangefarbene Stichflammen in die Höhe. Ihr Rauch wand sich dem Himmel entgegen, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Alle schauten wie hypnotisiert dorthin.
    »Ja, lauf schnell nach Hause, Thomas«, meinte Hermann wie beiläufig. »In einer Nacht wie dieser solltest du deine Mutter nicht allein lassen.«
    Jetzt verstand er.

Leningrad, Herbst 1938
    Einer nach dem anderen sanken die Gäste auf das rostrote türkische Sofa und bedachten einander mit Blicken, in denen sich zwar langjährige Freundschaft, jedoch auch gegenseitiges Misstrauen spiegelte. Der hünenhafte Muraschowski näherte sich unter dröhnendem Gruß dem Sofa, auf dem es sich bereits Varlamow und Emma Fjodorowna bequem gemacht hatten. Zwischen ihnen, in sich zusammengesunken, hockte Brodski. Varlamow presste die Hände auf die Ohren, und Emma Fjodorowna bedeutete Muraschowski, mit den Händen fuchtelnd, dass kein Platz mehr sei, worauf er sich zurückzog. Gegen die verblichene Tapete gelehnt, ließ er seinen Blick in den trüben Abendhimmel wandern.
    Noch bevor sie einander begrüßten, wurden die Namen derjenigen rekapituliert, die zwar eingeladen waren, der Zusammenkunft aber lieber fernblieben. Denn bekanntermaßen waren bei solchen Treffen die Abwesenden die Hauptdarsteller – ihre Feigheit verlieh den Anwesenden eine Aureole des Wagemuts und sicherte ihnen das Vorrecht, jene Jammergestalten mit einem nicht mehr zu tilgenden Kainsmal zu versehen. Je größer die Zahl der Abwesenden jedoch wurde, desto quälender gerieten die Zweifel. Die anderen wussten offenbar um bestimmte Dinge, überlegten die Gäste in wachsender Panik. Sollte jemand sie gewarnt haben, und warum haben sie dann nicht uns gewarnt? Und wenn jemand zu wissen begehrte, welche Pläne bei diesem Treffen zur Sprache kamen, würde er gewiss von einem

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