Gute Leute: Roman (German Edition)
ihn zu unterhalten. Sie mochte den Mann nicht besonders, aber sie hasste ihn auch nicht: Er war nur ein weiterer Vorgesetzter, dem zu gefallen ihr gelungen war.
Mit den Bewegungen eines Dirigenten gab sie am Tisch die Einsätze, forderte den einen auf, ein bestimmtes Thema vorzubringen, gab das Wort an einen anderen weiter und maß ihm mit den Fingern Redezeit zu, brachte alle zum Schweigen für Nikita Michailowitsch. Nur selten blieb ein Fall in ihrer Erinnerung hängen: Wassili Awgostinowitsch, Schweinezüchter, Gefängnis, seine Frau und acht Kinder in die Verbannung nach Sibirien. In der Pause machte man ihr Komplimente für die Leitung der Sitzung, die meisten bemühten sie, um Nikita Michailowitsch zu schmeicheln, da der Mann gewisse Schwierigkeiten hatte, Gesichter und Namen zu behalten. Jeder wollte sie zum Mittagessen einladen. Sie wich aus, vertröstete auf ein andermal, versüßte ihre Absage aber stets mit ein paar geflüsterten Unanständigkeiten: Was die Brester Frauen für ein bisschen Brot und Schweineschmalz wohl zu tun bereit wären? Als die Sitzung beendet war und der ganze Verein aufgestanden war und den Raum verlassen hatte, stand Nikita Michailowitsch noch immer an seinem Platz und bedachte sie mit finsterem Blick. Sie schenkte ihm ein aufreizendes Lächeln: Sind Sie nicht zufrieden, Nikita Michailowitsch? Und was wollen Sie von mir?
Er wies sie an, sich am Ende des Tages bei ihm einzufinden, erhielt eine schnippisch-forsche Antwort: »Ich hatte nichts anderes erwartet«, und machte sich dann ebenfalls davon.
Sascha ging langsam zu ihrem Büro. Der finstere Blick, den er ihr zugeworfen hatte, belustigte sie. Dieser Mann, der Zehntausende von Menschen ins Gefängnis geschickt hatte, nach Sibirien und in den Tod, war eine zerstreute Kreatur, die jemanden vorstellen wollte, der größer war als er selbst. Immerhin war er sich dessen bewusst. An seinem fünfzigsten Geburtstag hatten sie sich in seinem Büro betrunken und bei der Gelegenheit hatte er gerufen: »Erlauben Sie mir, mich Ihrer Exzellenz vorzustellen: Nikita Michailowitsch Kropotkin – bedauerlicherweise nicht verwandt mit Pjotr –, Bolschewik mit Herz und Seele, zwei Jahre Medizinstudium, Erfinder der Erziehungstheorie der ›sich verkürzenden Zeiteinheiten‹ und Massenmörder.«
Sie schloss die Bürotür ab, setzte sich in ihren Sessel, genoss die Berührung des kühlen Leders in ihrem Nacken und las Maxims Brief, den sein engster Freund, der in der Finanzabteilung arbeitete, ihr an diesem Morgen überbracht hatte. Seine ornamentalen Schnörkel und die Handschrift, die er sich in den letzten Jahren zugelegt hatte, um als besonnener und vernünftiger Mensch zu erscheinen, missfielen ihr:
Liebste, jetzt, da Stepan Kristoporowitsch nicht einmal mehr seine Frau beschäftigt, ist es Zeit für dich, nach Leningrad zurückzukehren. Gib mir deine Einwilligung, und ich werde mit Leichtigkeit alles Erforderliche in die Wege leiten. Meine Position ist in letzter Zeit erheblich gestärkt worden, und auch die Stimmung in der Stadt hat sich verbessert. Lass uns ehrlich sein: Wir haben die schweren Tage überlebt, haben getan, was von uns verlangt wurde, und sind – wenn keine andere Wahl bestand – auch vor Grausamkeiten nicht zurückgeschreckt.
Liebste, ich habe in letzter Zeit nicht eben wenig mit Resnikow gesprochen, der Stepan Kristoporowitsch abgelöst hat. Er ist gewiss nicht so verschlagen und boshaft, wie du gedacht hast, und auch wenn er dir in der Vergangenheit feindselig gesonnen gewesen sein mag (wovon ich nicht einmal überzeugt bin, möglich, dass dein »Stjopa« euch beide gegeneinander aufgehetzt hat), dann hat er seine Meinung über dich geändert. Du wirst mir entgegenhalten: Es versteht sich von selbst, dass es in deiner Gegenwart niemand wagen wird, deine Frau zu verunglimpfen – aber das Lob, das er dir zollt für die Geständnisse, die du überarbeitet hast, und die Art und Weise, in der du die Beschuldigten zur Aufrichtigkeit angehalten hast, klingt uneingeschränkt aufrichtig.
Sascha, auf deine Bitte hin bin ich der Angelegenheit nachgegangen, und sicher wirst du glücklich sein zu hören, dass die Dichterin Nadjeschda Petrowna tatsächlich aus dem Gulag zurückgekehrt ist. Ihre Gesundheit ist ordentlich, und sie hat ihren Freunden bereits eröffnet, sie sei dabei, einen neuen Gedichtzyklus zu verfassen, in dem sie ihren eigenen Sinneswandel zum Ausdruck bringen will.
Liebste, mehr als alles andere
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