Gute Leute: Roman (German Edition)
Zum ersten Mal zeigte er sich heute in diesem Anzug, »von Churkjewitz genäht, dem besten Schneider in ganz Moskau«. Nikita Michailowitsch behauptete, er trage ihn nur, weil seine Frau ihn gebeten hatte, ihr Geschenk zu seinem fünfzigsten Geburtstag wenigstens ein einziges Mal anzuziehen.
»Im September vergangenen Jahres war ich für ein paar Tage bei der 4. Armee, eine kleine Kontrollvisite. Wir erreichten die Gegend um Pruschany. Sie glauben nicht, wie man uns dort empfangen hat: die ganze Stadt ein rotes Fahnenmeer, und getanzt wurde, Tag und Nacht. Als kein Wodka mehr da war, holten sie das Eau de Cologne, das die polnischen Polizisten zurückgelassen hatten, und tranken alles aus … Nach zwei Tagen trafen die Männer ein, die vor den Nazis in die Sümpfe von Pinsk geflohen waren, und das Fest begann erneut. Auf den Panzern haben wir getanzt. Mit diesen meinen Augen habe ich gesehen, wie es möglich ist, Gutes in die Welt zu bringen.«
»Glückliche Tage, zweifelsohne«, erwiderte sie und zog sich in Richtung Tür zurück. Nikita Michailowitsch konnte stundenlang über jene schönen Tage schwadronieren oder über Bücher, die sich mit Erziehung und Moral befassten, Lehrmethoden aus dem Amsterdam des 16. Jahrhunderts, Alfonso der Weise aus Toledo, Bagdad im zehnten Jahrhundert, oder – schlimmer noch – er stellte abermals sein großes Projekt vor: »Die Erziehung der Zukunft – das Programm zur Ausnutzung der Zeit: sich verkürzende Zeiteinheiten.« In letzter Zeit predigte er den Lehrern, die aus Russland eintrafen, sie sollten in »sich verkürzenden« Zeiteinheiten lehren: »Nicht kurz, es gibt keine kurzen Zeiteinheiten, nur sich verkürzende.«
»Alexandra Andrejewna, noch eine Sache«, rief Nikita Michailowitsch. »Wir erhalten vermehrt Beschwerden über die Nachsichtigkeit, die der NKWD gegenüber den jüdischen Partisanen auf dem Trödelmarkt walten lässt. Es heißt, der Ort sei zu einem Schwarzmarkt für Hausierer und Betrüger geworden. Wenn diese Leute nicht arbeiten wollen, dann wird man ihnen in den Wäldern von Archangelsk beibringen, was Arbeit ist.«
»Es handelt sich dort vor allem um Flüchtlinge, die vor den Deutschen geflohen sind«, erwiderte sie. »Wir haben bisher nichts gehört über zersetzende Äußerungen.«
»Bis Ende des Monats werden wir wenigstens zweihundert Partisanen ausweisen, das wird dem Rest eine Lehre sein.« Der gelangweilte Klang seiner Stimme bedeutete, dass die Angelegenheit erledigt war. »Ich lasse es Sie nur wissen, weil die Juden Ihnen am Herzen liegen.«
Sie antwortete nicht. Die ganze Woche schon hatte er Andeutungen über bald zu erwartende Veränderungen fallen lassen, deren Sinn sich ihr noch immer nicht erschlossen hatte. Zunächst hatte sie befürchtet, auch er könnte Ziel einer Intrige geworden sein, wie Stjopa, doch sein Tatendrang zerstreute alle Sorgen.
Jeden Morgen setzte sie sich in ihrem Büro ans Fenster, das auf den Fluss Muchawetz ging, und erwartete die aufgehende Sonne. Brest war die klarste und hellste Stadt, die sie je zu Gesicht bekommen hatte.
Der Feuerball stieg aus dem Fluss auf, und schon bald würde er sich bis über die Wipfel der kahlen Bäume, die das Flussufer säumten, aufgeschwungen haben. Eine Bewegung war im Herzen der Kugel zu erahnen. Sascha schaute durch den dünnen Vorhang geradewegs hinein: Vier goldene Arme reckten sich aus der Sonne, so dass sie aussah wie ein Kreuz.
Es blieben noch zwei Stunden bis zur Sitzung der NKWD-Oberen in der Oblast, bei der es um die Behandlung von konterrevolutionären und zersetzenden Elementen gehen sollte. Auf diesen Sitzungen trugen die Vertreter des regionalen, des städtischen und des Distriktkomitees der Partei Fälle vor, die einer besonderen Erörterung bedurften: umstürzlerische Äußerungen in der Holzkorporative Pruschany, achtzig Kandidaten für eine Ausweisung, acht Arbeiter ins Gefängnis, zweiundsiebzig Kinder nach Sibirien; ein Pole, Vertreter des Schokoladenherstellers »Suchard«, hatte sich abfällig über das Bündnis mit den Nazis geäußert und behauptet, dies sei ein Verrat an Stalins Maximen.
Sie hatten einen Zeitvertreib für die besonders langweiligen Momente ersonnen: Sie schrieb Nikita Michailowitsch einen Zettel mit einer privaten Bemerkung, und er bearbeitete diese so lange, bis sie kryptisch genug war, öffentlich vorgetragen zu werden. Diesmal schrieb sie ihm: »Es gilt zu bedenken, dass die Beherztheit, eine beherzte Meinung zu ändern,
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