Gute Leute: Roman (German Edition)
möchte ich, dass wir ein Kind haben werden, und ich bin besorgt über deinen Verbleib an diesem fernen und gefährlichen Ort. Ich verstehe, dass du dich um deinen schmächtigen Bruder sorgst. Was die Fleischrationen für die Soldaten der 4. Armee in Westweißrussland betrifft, so habe ich meine Kontakte bemüht, doch Versorgungsengpässe sind ein leidiges Phänomen an allen neuen Fronten: In der Westukraine, in Estland und Litauen, in allen Republiken, die sich unseren Reihen angeschlossen haben, verläuft die Versorgung schwerfällig, und es wird noch einige Zeit brauchen, bis sie mit unseren Erfolgen mithalten können. Dein Verbleib dort wird deinem Bruder nicht helfen. Ich glaube, wenn du erst wieder hier an meiner Seite bist (Resnikow hat bereits seine Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, dir eine Aufgabe zu geben, die deinen Begabungen entspricht), werden wir dem kleinen Hungerhaken mit anderen Mitteln helfen können.
Dieser letzte Satz amüsierte sie. Wieder schlug er ihr einen Kuhhandel vor: Komm zurück, werde endlich schwanger, und ich werde Nikolai helfen.
Sie überflog die restlichen Seiten – alles war wie zu erwarten – und schloss die Augen. Jeden Tag sehnte sie die Mittagspause herbei, um sich ihren Träumen hinzugeben. Dann war sie ein anderer Mensch in einem anderen Leningrad, hatte schlagfertige Antworten für den Chor der Klagenden und Anklagenden parat. Außerdem konnte sie sich vorstellen zu sterben, was nicht einmal besonders beängstigend war, konnte die programmierten Gesten ablegen, die ihre Schritte im Wachzustand leiteten. War nicht länger wie jener Schachautomat, über den sie als kleines Mädchen in einer französischen Zeitung gelesen hatte, eine Apparatur, die am Hofe Maria Theresias für Furore gesorgt und die besten Schachspieler jener Tage besiegt hatte. (Als sie später erfuhr, welcher Trick dahintersteckte, war sie sehr enttäuscht gewesen.)
Sie erwachte von einem Klopfen an der Tür. Die Lichter der Straßenlaternen flackerten bereits im Fenster. Sie hatte mindestens zwei Stunden geschlafen. Hastig streifte sie ihre Bluse mit den Puffärmeln über, verteilte einige Papiere auf ihrem Tisch, nahm einen Schluck Wasser, knipste das Licht an und glättete, während sie zur Tür eilte, ihre Haare.
»Guten Abend, Genossin Weißberg«, Nikita Michailowitsch lehnte an der Wand. Sie zwang sich, nicht zu blinzeln, hatte bereits Übung darin, abrupt vom Dunkel ins Licht zu wechseln.
»Guten Abend, Genosse Kropotkin«, erwiderte sie betont förmlich und deutete auf den Sessel, in dem er am liebsten saß.
Er folgte ihr, seine Kleidung verströmte den Duft von Eichenholz, er schloss die Tür hinter sich und schaltete das Licht aus. Er mochte die Beleuchtung in ihrem Büro nicht, das Licht der Straßenlaternen war seiner Meinung nach absolut ausreichend.
»Bei diesem Licht scheint Ihr Haar blau.«
»Das sagen Sie immer.«
Auch Nikita Michailowitsch hatte eine Schwäche für sie, aber im Unterschied zu Stjopa war er darauf bedacht, seine Unabhängigkeit zu wahren und pflegte, wenn er das Gefühl hatte, ihrem Zauber zu erliegen, sich für einige Tage von ihr fernzuhalten. Kein Zweifel, dass er sie begehrte, aber er war sich der Aussichtslosigkeit der Sache bewusst und blieb seinen ehernen Prinzipien treu: Sie war mit Maxim Podolski verheiratet, er hatte eine Frau und war zweifacher Vater – punktum.
»Es muss Ihnen nicht peinlich sein, dass Sie eingeschlafen sind. Erst diese Woche hat man mir Ihre Schwäche verraten, gern ein Mittagsschläfchen zu halten, und ich habe angeordnet, lasst das Mädchen schlafen.«
»Man hat es Ihnen verraten«, wiederholte sie, amüsiert ob seiner Marotte, anderen die Schuld an der Übermittlung von Informationen zu geben, mit denen sich zu befassen eigentlich unter seiner Würde war.
Er goss ihnen beiden einen Wodka ein, und sie stießen über dem Tisch an. Er war bereits stark angetrunken, das sah sie jetzt. Wenn er reichlich getrunken hatte, zitterten seine Finger und verfärbten sich purpurn.
»Erinnern Sie sich noch an den letzten Tag Ihrer ersten Woche in Brest?«
»Gewiss.«
»Wo haben wir damals gestanden?«
»Auf dem Dach von Haus Nr. 8.«
Früh am Morgen, ein Morgen im Mai: Auf die kleine Straße strömten Menschen, Männer in leichten Sommeranzügen, Frauen in blumigen Frühlingskleidern, mit Strohhut und Sonnenbrille, junge Mädchen mit bunten Sonnenschirmen, Kinder, die Spielzeug und Puppen umklammert hielten. Klapptische,
Weitere Kostenlose Bücher