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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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ein seltener Fall von Beherztheit ist.«
    Jetzt rief Nikita Michailowitsch freudig aus: »Genossen, bitte bezieht zu folgender Annahme Stellung: Ein Mensch überträgt seine Entschlossenheit von einem Standpunkt auf einen anderen. Der Standpunkt mag sich vielleicht ändern, die Entschlossenheit jedoch bleibt.«
    Sie ging die Vorlagen auf ihrem Tisch durch – unlängst erst hatte ihr Nikita Michailowitsch übertragen, eine Tagesordnung für die Sitzungen zu erstellen, damit nicht Stunden mit sinnlosem Gerede vertan wurden: der letzte Stand der Ermittlungen gegen die Vorsitzenden von Kolchosen und Dorfräten; eine Liste der Verhafteten in Pinsk im Jahre 1940; ein Eilverfahren gegen jene Bewohner Brests, die als Angehörige des privaten Sektors keine Kultursteuer gezahlt hatten. Nichts Neues mithin. Doch hier war ein Fall, der der Sitzung etwas Leben einhauchen könnte: Vier Bürger hatten auf der Straße einen Mann zu fassen bekommen, der unter den Polen für die Polizei gearbeitet hatte. Sie hatten seinen Körper mit Schwertern traktiert, ihm die Hände abgehackt, doch er stand immer noch aufrecht. Danach hatten sie ihn von der Schulter bis zur Hüfte gehäutet, von beiden Seiten. Das Ganze klang wie ein kaukasisches Märchen.
    Beim ersten Mal, als Sascha die Listen von den verschiedenen Abgesandten erhalten hatte, hatte sie zwanzig Minuten benötigt, um sich über die wichtigsten Themen klar zu werden, und dann realisiert, dass Hunderte von Menschen, deren Namen dort auftauchten, jetzt ohne weitere Erörterung in die Verbannung geschickt werden würden, genau wie man damals ihre Eltern in ein Straflager verschickt und Kolja und Wlada in ein Waisenhaus gesteckt hatte. Ihre Arbeit änderte daran nicht das Geringste. Auf ihre Bitte hin hatte Nikita Michailowitsch die Überwachung der Schulen in ihre Hände gelegt. Sie bediente sich des neu in der Stadt eingerichteten Archivs, um Zugriff auf klassifizierte Dokumente der polnischen Herrschaft zu erhalten, und brachte Nikita Michailowitsch dazu, jenen Arbeitern in den Korporativen den Krieg zu erklären, die ihre Dienste nur Begüterten gewährten: Die Betrüger verloren ihre Arbeit, und einige wurden verhaftet.
    Sie schacherte nicht mehr um die Seelen der Beschuldigten wie noch in Leningrad.
    Die Begegnung mit Kolja in der Steppe hatte keinerlei Erinnerung in ihrem Bewusstsein zurückgelassen; in den Abgründen ihrer Seele wurden offenbar Elixiere gebraut, die sie vor der Verzweiflung bewahrten. Und wenn ihr Koljas Gestalt in Uniform wieder einfiel, mitsamt den Worten, die er ihr entgegengeschleudert hatte, und sie ihn am liebsten am Hals gepackt und gebrüllt hätte: Wie konntest du nur dieser schrecklichen Frau glauben? – auch dann noch beharrte ihre Phantasie trotzig darauf, sie in das Zimmer ihrer Kindheit zu versetzen. Sie ängstigte sich zutiefst, durch das Gefühl der Fremdheit, das er jetzt ihr gegenüber empfand, könnte er die Reinheit ihrer Liebe trüben, denn ohne diese gab es keinen Sinn mehr, noch länger am Leben zu sein.
    Sonderbar, aber nach jener Begegnung wurden allmählich ganze Bereiche in Leningrad aus ihrem Bewusstsein getilgt. Sah sie zunächst noch Nadjeschda durch muffige Mietskasernen streifen und das Gedicht »Siehe, der Soldat Dmitri« verlesen, so verwischten sich nach und nach ganze Straßen – bis auf das Haus ihrer Kindheit gab es kein Leningrad mehr.
    In letzter Zeit hatte sie immer häufiger die Furcht überkommen, dass sie schon bald Rechenschaft über ihre Taten würde ablegen müssen. Alle, die Toten und die Lebenden, würden eine Erklärung verlangen: Wie kann es sein, dass du beim NKWD warst? Wenn solche Vorwürfe überhand nahmen, stellte sie sich vor, wie sie rotzige Antworten gab: Offenbar war ich besser als ihr, offenbar habe ich mich geweigert, das Schicksal zu akzeptieren, das ihr mir bestimmt hattet. Hörst du, Mama? Ich wasche meine Hände in Unschuld und sage: Ich bin rein vom Blut dieser Gerechten. Ihr gebt mir die Schuld an Wladas Tod? Ihr nennt mich einen Boris Godunow? Dabei hat doch Nadjeschda nicht das Geringste vom Gang der Geschichte verstanden – ihr selbst habt gesagt, ihre historischen Anspielungen seien wie das Blättern eines Blinden in den Seiten der »Chronik Russlands«. Und Verehrer wie Brodski, die ihre Gedichte redigiert und sie vor Peinlichkeiten bewahrt haben, sitzen jetzt im Gefängnis oder sind tot.
    Sie ließ sich zwei Stühle entfernt von Nikita Michailowitsch nieder, war es schon müde,

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