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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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Mehlsäcke, in Handtücher gewickelte Brotlaibe.
    »Wo bleiben die Lastwagen?«, hatte sie Nikita Michailowitsch gefragt.
    »Die braucht man hier nicht, der Bahnhof ist nur fünfzehn Minuten zu Fuß entfernt.«
    »Was sind das für Menschen?«
    »Hauptsächlich Händler«, hatte er geantwortet. »Vertreter polnischer Firmen, Makler in Holzgeschäften, auch einige, die für amerikanische Unternehmen mit Geldern spekuliert haben. Alle möglichen Anteilseigner von Banken, unter ihnen etliche Juden, eine dieser Banken haben diese Schufte doch tatsächlich ›Volksbank‹ genannt. Zwei dieser Leute standen in Verbindung mit einer Bank, die Geld an zionistische Einrichtungen weitergeleitet hat. Sie haben von jedem Kunden verlangt, einen zionistischen Schekel zu kaufen. Jetzt mag es Ihnen schwer vorkommen, ein Urteil über diese Menschen zu fällen: Nun, da sie schwach erscheinen, mag das Herz ihnen verzeihen, auch nehmen sich ihre Vergehen geringfügig aus im Vergleich zu ihrer Strafe. Doch bedenken Sie, dass diese Bourgeoisie viele Jahre eine ganze Welt vor uns verborgen gehalten hat. Wir haben allen Eltern geraten, ihren Kindern zu sagen, sie brächen zu einer Reise in ferne Länder auf«, flüsterte er.
    Sie hatte auf dem Dach gestanden und die wunderbare Luft dort oben eingeatmet. Die Stadt breitete sich licht und frisch vor ihren Augen aus, Arbeiter schoben mit Holz beladene Karren, rote Fahnen unterteilten die beiden Stockwerke der Finanzabteilung, Kinder mit ihren Eltern marschierten durch die entfernter gelegenen Straßen. Andere Kinder schleiften ihre schweren Schulranzen über den Asphalt. Auf dem Markt am Ende der Stadt, in der Nähe des Flusses, wurden an den Ständen bereits die Fische aufgehäuft. Die Grabsteine auf dem alten Friedhof sahen wie kleine Lichtschachteln aus, und in der Ferne leuchteten die bewaldeten Inseln im Strom. Auf der Straße zu ihren Füßen hatten die Agenten des NKWD die Menschen zu zwei Kolonnen geordnet und sie in Richtung Westen in Marsch gesetzt. Sie sah ihnen nach, bis sie aus dem Blickfeld verschwunden waren.
    Nikita Michailowitsch schlug mit dem Finger, an dem sein Ehering steckte, gegen seine Wodkatasse, als wollte er um ihre Aufmerksamkeit bitten. »Selbstverständlich wussten wir von Anfang an um die Geschichte der Weißbergs, Genossin, aber was wir damals noch nicht wussten, war, wie man Ihre Eltern und Ihre Brüder weggebracht hat, vielleicht hat es sich in dieser Form vollzogen, vielleicht bei Nacht, vielleicht hatte man sie zu einer Vernehmung einbestellt, von der sie nicht zurückkehren sollten. Ich wollte, dass Sie diesen Teil unserer Arbeit hier sehen: Die Reinigung der Oblast von zersetzenden Elementen. Kindern und Frauen. Allen.
    Mir war bekannt, dass Sie bei Ihrer Arbeit in Leningrad die Beschuldigten in den Verhörräumen auf wirklich bemerkenswerte Weise bei ihren Geständnissen angeleitet hatten, aber ich dachte mir, dass Sie noch nie eine Straße am Morgen haben erwachen sehen, wenn sich die Bewohner der Häuser plötzlich auf der Straße drängen, mit zwei Wertgegenständen, die sie gerade noch haben an sich raffen können, und ein paar Münzen im Strumpf, und dann marschiert die Kolonne eins-zwei-eins-zwei los. Ich nahm an, dieses Bild würde Ihnen Ereignisse in Erinnerung rufen, die Ihnen selbst widerfahren sind, und fragte mich, ob Ihr Verhalten wohl etwas von Ihrer inneren Erregung preisgeben würde. Sie aber haben mich mit technischen Fragen zu Verfahrensweisen und Befehlsketten überschüttet, kamen bereits da auf Verbesserungsvorschläge zu sprechen, weshalb ich sogleich verstand, dass alle Lobeshymnen, mit denen der arme Stjopa Sie bedacht hatte und an denen ich gehörige Zweifel hegte, da ich die Schwäche dieses Dummkopfes für junge Frauen ja nun einmal kenne, durchaus berechtigt waren.«
    Abermals goss er ihr einen Wodka ein, und sie trank. Sein Manöver war in der Tat allzu durchsichtig gewesen: Es mochte wohl Menschen geben, die eine kleine Erschütterung durch große Gesten zum Ausdruck brachten, doch bei ihr verhielt es sich genau umgekehrt. Außerdem: Stepan Kristoporowitsch war Abteilungsleiter gewesen, Nikita Michailowitsch war eine Art Filmregisseur.
    »Das einzige, was ich damals nicht begriffen habe, war, dass es ein Fehler ist, Sie nach Ihren Reaktionen zu beurteilen. Sie sind eine wahre Meisterin der Verstellung.«
    »Meinen Sie?«, erwiderte sie ungehalten. »Selbst für fortschrittlich denkende Kommunisten wie Sie verkörpern wir

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