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Gute Nacht Jakob

Gute Nacht Jakob

Titel: Gute Nacht Jakob Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Bentz
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zerplatzt. Trotzdem sehen wir sie nebeneinander und zu gleicher Zeit. Also — wieder stimmt nicht, was du siehst. Ich gebe dir noch ein anderes Beispiel: Wenn dich auf dem Schulhof ein kleiner sechsjähriger Spatz aus der ersten Klasse trifft, und du sprichst mit ihm, wird er sagen: »Ein großer Junge hat mit mir geredet.«
    »Klar, m... hm, Hochwürden!«
    »Nun, und wenn du zu einem Abiturienten sprichst, dann wird er sagen: »So ‘n Hosenmatz aus der Quinta hat mich angeredet.«
    »Hm...«
    »Nun, nimm ihm das nicht übel, denn er wieder muß es sich gefallen lassen, daß ich ihn ein junges Bürschchen nennen würde, wenn er mit mir redete, und so wieder würde der Herr Bischof von mir sagen, wenn ich mit ihm spräche. Stimmt’s?«
    »Ja...«
    »Nun! Noch ein Wort: Es gibt nicht groß und klein, lang und kurz, alt und jung — du kannst nur sagen: es kommt mir so vor, ich sehe es so. Aber du hast ja schon gemerkt, daß wir meist falsch sehen. Und deshalb kannst du auch nicht sagen, die Natur ist grausam, oder Gott ist grausam, du siehst es nur so, weil du es nur aus deinem kleinen Winkel siehst...« Er seufzte: »Wie es in Wirklichkeit ist, das weiß Gott allein.«
    Ich versuchte in seinen Augen zu lesen, um die sich jetzt wieder die gewohnten Strahlenfältchen des Lächelns gebildet hatten, dann sagte ich: »Wenn wir nichts wissen, woher wissen wir dann, daß Gott es weiß?«
    Er bekreuzigte sich und starrte mich eine Weile an. Allmählich gingen seine Augen durch mich hindurch, und es war mir, als starrte ich in eine unendliche Nacht und fröre. Ganz von fern hörte ich dann seine Stimme: »Du wirst es eines Tages — oder eines Nachts — wissen. Und ich werde für dich beten, daß dieser Augenblick dich nicht zu spät erreicht.«
    In diesem Augenblick wurden wir uns eines seltsamen Geräusches bewußt, eines Flatterns und Klirrens und unartikulierten Krähens, das aus dem Nebenzimmer drang. Während wir noch lauschend schwiegen, stürzte die Wirtschafterin mit allen Zeichen des Entsetzens herein: »Hochwürden — Hochwürden — der schwarze Teufel bringt die Lora um!«
    Hochwürden war mit erstaunlicher Schnelligkeit auf den Füßen und noch vor mir im anderen Zimmer, wo sich uns folgendes Bild bot: Auf dem breiten Fensterbrett, das zum Garten hinausführte, stand das große Papageienbauer, und darin saß, wie es sich gehörte, die grüne Lora. Das heißt, sie saß kaum noch, sie hing nur noch an der Stange, die Flügel zitternd seitwärts gesenkt, den Schnabel aufgerissen, und aus dem Schnabel quoll dickes, rotes Blut. Vor dem Bauer saß, in Schlangenstellung mit Basiliskenblick, Jakob und keifte:
    »Armleuchter — Schulmeister — Scheißkerl!« (das letzte Ergebnis aus Onkel Gustls Sprachunterricht).
    »Amen...«, fauchte Lora undeutlich, »Maria... die Suppe...« Und nachdem sie so die Schlachtrufe getauscht, rückte Lora gegen das Gitter vor, den gekrümmten Schnabel weit aufgerissen. Bevor sie jedoch zubeißen konnte, schlug der spitze Dolch Jakobs blitzschnell zu, mitten in die dicke, gewölbte Papageienzunge. Lora stieß ein wehes Krächzen aus und wandte sich um. Bei dieser Gelegenheit riß ihr Jakob eine weitere Schwanzfeder aus. Zwei hatte er schon neben sich liegen. Lora flatterte in Panik gegen die Decke des Bauers. Jakob sprang mit wildem »Kakao-Kakao-UItruspultrus« auf das Bauer und holte zu einem neuen Hieb aus, als ich ihn packte. Er biß mich wütend in die Hand, worauf ich ihn so schüttelte, daß selbst sein stoßfest aufgehängtes Gehirn zu schlackern begann. Dann trug ich den fauchenden Wüterich ins Nebenzimmer, wo ich ihn auf eine Stuhllehne setzte und ihm »Büßen!« anbefahl. Er tat es, und Hochwürden, der mit gerötetem Gesicht hinter mir herkam, nachdem er seinen ramponierten Piepmatz getröstet hatte, sah es sich schweigend an.
    Ich wandte mich zu ihm um: »Da sehen Sie’s mal selbst!« sagte ich.
    Ja, grollte er dumpf, er sehe es.
    »Jetzt würden Sie ihm wohl am liebsten das Genick umdrehen?« forschte ich weiter.
    Er könne diesen Wunsch nicht leugnen. Obwohl er natürlich sündig sei!
    »Na«, sagte ich und nahm mein Jägerhütchen vom Stuhl, »dann werde ich lieber gehen.«
    »Tue das, mein Sohn, tue das!«
    Ich griff meinen Jakob, setzte das Hütchen auf, gab Hochwürden die Hand und machte eine besonders tiefe, formelle Verbeugung. Seine Hand war schlaff und kalt und drängte mich weg. Mir kamen die Tränen:
    »Sie haben selbst gesagt, er weiß nicht, daß er

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