Gute Nacht Jakob
getroffen. Es war das erste- und übrigens einzigemal, daß meine fanatische Liebe zu dem schwarzen Geschöpf, das da vor mir saß und impertinent zu mir emporschielte, ernsthaft ins Wanken geriet. Vielleicht war diese Liebe unangebracht? Undeutlich fühlte ich die ungeheure Kluft, die uns trennte, obwohl uns das Schicksal so eng aneinandergebunden. Man muß bedenken, daß ich ein junger Mann von elf Jahren war, der nicht nur in seiner Traumwelt von Schlachten und Indianerjagden lebte und die Schule mit abnehmendem Erfolg besuchte, sondern daß ich auch eine gute Portion widerborstige Nachdenklichkeit in mir hatte, die ihren Niederschlag in einem ängstlich versteckten Schulheft mit der Aufschrift >Meine Weltanschauung< gefunden hatte. Es war das Ergebnis einer geistigen Unternehmung, die man auf der Ebene der Erwachsenen als »kritische Bibelforschung< bezeichnet hätte, die ich übrigens nicht nur in besagtem Schulheft verwertete, sondern mit der ich auch meine Religionslehrer zur Verzweiflung brachte.
Ich sah mich also wie aus einem Traum erwachend um, und plötzlich schien sich das Sonnenlicht zu entfärben. In der blauen Luft sah ich den Falken, der die Taube jagte. Den Baum zerfraßen die Würmer, zwischen seinen Zweigen bereiteten Spinnen harmlosen Insekten qualvollen Tod. In der Wiese überfielen Ameisen Würmer und Käfer. In den Wäldern wüteten Fuchs, Marder und Schlange unter dem anderen Getier, alles war aus einer Idylle, aus einem Bild des Friedens teuflisch verwandelt in eine große Hölle des Mordes und der Todesqualen.
Kurz von Entschluß und von einem tiefen Glauben an die Wirksamkeit amtlicher Maschinerie erfüllt, beschloß ich, mich beschwerdeführend an die zuständige Stelle zu wenden. Als solche bot sich selbstverständlich Hochwürden, der Pfarrer, dar.
Hochwürden bewohnte mit seiner Wirtschafterin ein kleines, sehr sauberes Häuschen neben der Kirche. Er war ein dicker, gemütlicher Mann mit einem Doppelkinn und lustigen Augen unter schweren Lidern, eine der beliebtesten Zielscheiben des Spötters Onkel Gustl. Wenn er zu Besuch ins Schloß kam, pflegte Onkel Gustl vor versammelter Familie eine Pantomime aufzuführen, wie Hochwürden die Deputatsgänse aß oder mit seiner Wirtschafterin schäkerte. Auch wurde ihm immer wieder versprochen, daß in der Hölle der Nachbarkessel neben dem von Onkel Gustl bereits für ihn reserviert sei. Er solle schon jetzt die nötigen Flaschen für das Wiedersehen bereitstellen. Nein — das sei ja kaum möglich — er tränke sie ja alle bei Lebzeiten aus! Vielleicht, daß sich Gott Bacchus aus dem alten Heidenhimmel herunter noch für ihn verwende! Sein durch Bacchus vor der Christenhölle bewahrter Geist werde dann wohl beseligt durch die Weinkeller seiner Pfarrkinder schweben, und am nächsten Morgen würden besagte Pfarrkinder baß erstaunt sein, wenn der Wein in Fässern und Flaschen verdunstet sei. Onkel Gustl führte auch handgreiflich vor, wie es gluckerte, wenn man Hochwürden nach dem Mittagessen auf den Bauch klopfte.
Hochwürden pflegte sich diese lästerlichen Reden schmunzelnd anzuhören und erklärte einmal, als ich dabei war und offenen Mundes und gruseliger Erwartungen voll darauf lauerte, daß sich nun unter Onkel Gustl die Erde öffnen oder ihn der Blitz erschlagen werde: »Nimm deinen Onkel nicht ernst, mein Sohn! Er ist im Grunde ein lieber Kerl und guter Christ. Er schämt sich nur dessen. Warum, das weiß der Himmel. Jedenfalls ist er mir lieber als alle diese Haufen von Heuchlern, die ich tagein, tagaus verarzten muß (»verarzten« sagte er ernsthaft!) und die nur zu mir kommen, damit ihnen ihre alten Gemeinheiten verziehen werden, auf daß sie neue begehen können.«
Worauf Onkel Gustl lachend das Glas gegen ihn gehoben und ihn einen »ganz verdammten alten Seelenfänger« genannt hatte.
Ich wanderte also mit Jakob auf der Hand aus dem Park zum Pfarrhaus, wo es wie üblich intensiv nach gutem Essen duftete. Es war kurz vor Mittag. Die Köchin führte mich zu Hochwürden hinein, der in seiner Fensternische bei den Blumen saß und ein dickes Buch auf den Knien hatte. Er legte das Buch beiseite, nahm die Brille ab und streckte mir eine kleine dicke Hand entgegen. »Ei — sieh da, das Hänschen! Willst du mit uns essen? Und das Jaköble ist auch mitgekommen! Dein Onkel hat mir schon davon erzählt, und hier im Ort bist du seinetwegen eine Sehenswürdigkeit!«
Jakob machte sich in der fremden Umgebung ängstlich dünn und preßte
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