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Gute Nacht Jakob

Gute Nacht Jakob

Titel: Gute Nacht Jakob Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Bentz
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sich an mich, ohne daß er wie sonst meine schützende Hand zu fühlen bekam. Darauf kroch er auf meine Schulter, kaute mein Ohrläppchen durch und sagte mir ganz leise und vertraulich »Tschack-tschack — Kakao!« ins Ohr.
    »Hochwürden«, sagte ich gewichtig, einen Stuhl ihm gegenüber erkletternd, »haben Sie einen alten Lappen?«
    Hochwürden zog fragend die Augenbrauen hoch.
    »Es ist wegen Jakob«, erklärte ich, »falls er was fallen läßt.«
    Worauf Hochwürden dröhnend lachte: »Das wischen wir schon weg. Und was gibt’s denn sonst noch? Du hast doch was auf dem Herzen!«
    »Sie wissen, ich bin evangelisch, Hochwürden, aber Sie wissen ja auch in der Bibel Bescheid. Ich möchte Sie etwas fragen.«
    Er faltete die Hände über dem Bauch und sah mich forschend an: »Frag nur, mein Kind. Außerdem gibt es ja — soviel ich weiß — nur einen lieben Gott, dem wir alle dienen, so gut wir es verstehen.«
    Ich erzählte das Erlebnis mit Jakob und meine Zweifel. Je weiter ich sprach, desto nachdenklicher wurde er, und ich hatte das angenehme Gefühl, von ihm durchaus ernst genommen zu werden. Schließlich stand er auf und dröhnte ein paarmal schweren Schrittes durch den großen dunklen Raum mit den Butzenscheiben, den gewaltigen Eichenstühlen und den Zinnkrügen auf den Borden. Dann blieb er vor mir stehen und legte mir die Hand auf die Schulter:
    »Es ist schön von dir, daß du so nachdenkst und nicht in den Tag hineinlebst! Nun — mein Sohn, das sind sehr, sehr schwere Probleme. Um sie zu begreifen, reicht unser kleiner Verstand nicht aus.«
    Er räusperte sich, als er mein enttäuschtes Gesicht sah, und fuhr hastig fort: »Ich will dich aber nicht mit solchen allgemeinen Phrasen abspeisen. Ich habe selbst — vielleicht sündigerweise — über diese und viele andere Dinge nachgedacht. Ich habe um Erleuchtung gerungen...« Er seufzte und sah traurig auf seinen Bauch. »Es ist nicht viel dabei herausgekommen«, fügte er dann hinzu, und ich verstand plötzlich in kindlicher Intuition, warum Onkel Gustl neulich nach einem Besuch des Pfarrers zu meiner Mama gesagt hatte: »Wenn sich das gute alte Faß eines Tages zu Tode säuft, weiß ich nicht, was ich ohne ihn in diesem Drecknest hier anfangen soll!«
    »Immerhin«, sagte die schwermütige Stimme, »glaube ich, dir folgendes sagen zu können: Dein Jakob ist nicht grausam, denn er weiß nicht, daß der arme Käfer Schmerzen hat, wenn er ihn zerreißt. Die Natur ist auch nicht grausam, denn sie handelt nicht von sich aus, sie ist nicht wie ein lebendiges Wesen, das weiß: jetzt tue ich dies oder jenes. Sie läuft ab wie ein großes Uhrwerk, das Gott gebaut und aufgezogen hat, damit es nach seinem Willen eine Weile läuft. Du kannst dich also ruhig weiter an ihr freuen als an dem großen Wunder des Herrn. Seine Hand mußt du in allem erkennen. Was siehst du mich so entsetzt an — glaubst du mir nicht?«
    »Doch, Hochwürden«, stammelte ich, »aber wenn das so ist, dann... dann ist ja Gott grausam und... sündig! Denn er weiß doch bestimmt, was er tut, wenn er arme Tiere, die nichts getan haben, so leiden läßt!«
    Die Augen in dem guten dicken Gesicht wurden ganz dunkel, dann sah er zum Fenster hinaus, und plötzlich war es ein anderer Mensch, ein viel hagerer, jüngerer. So hatte er vielleicht ausgesehen in der Zeit, als er noch keinen Bauch hatte und um Erkenntnis rang...
    »In der Bibel steht...«, begann er schließlich. Er sah mich an und machte eine Handbewegung, als schiebe er ein dickes Buch beiseite. »Ich will es dir anders erklären. Weißt du, was Perspektive ist?«
    »Ja, wir hatten’s in der Zeichenstunde.«
    »Gut. Du siehst den großen Baum in der Ferne kleiner als den niedrigen Busch gerade vor dir. Stimmt das?«
    »Ja, natürlich«, sagte ich erstaunt, »das ist doch eben die Perspektive!«
    Seine Hand wischte wieder etwas weg: »Perspektive! Die Menschen kleben ein Etikett auf eine Sache und glauben, damit sei sie erklärt. In Wirklichkeit belügen dich deine Augen. Sie zeigen dir etwas, was nicht stimmt. Hm?«
    Ich überlegte es eine Weile. »Ja, das ist richtig«, sagte ich dann.
    »Gut, sieh auf zum Himmel. Hattet ihr schon Astronomie in der Schule?«
    »Gerade angefangen.«
    »Nun, die Sterne, die du dort alle zu gleicher Zeit nebeneinander siehst, sie sind nicht zu gleicher Zeit da, denn das Licht von ihnen her braucht Hunderttausende von Jahren, bis es zu uns kommt. Vielleicht sind die meisten von ihnen längst erloschen oder

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