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Gute Nacht, mein Geliebter

Titel: Gute Nacht, mein Geliebter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger Frimansson
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konnte keinen einzigen Grashalm entdecken.
    Justine verspürte unwillkürlich den Impuls, in die Hände zu klatschen, um eine unmittelbare Reaktion auszulösen, um zu erleben, dass eines, vielleicht das Leittier, sie entsetzt anstarrte und durchging, ohne zu begreifen, dass es an allen Seiten von Zäunen umgeben war. Voller Panik würde es an nichts anderes mehr denken können als an Flucht, und die anderen würden ihm folgen. Außer sich vor Angst würden sie durch den Morast donnern und völlig die Orientierung verlieren.
    Natürlich tat sie es nicht.
     
    Links von der Eisbahn begann eine beleuchtete Loipe. Sie folgte ihr nur ein kurzes Stück, bog dann ab auf das matschige Terrain unterhalb der Mietshäuser, ließ den Parkplatz am Maltesholmbad hinter sich, wo sie im Vorbeigehen registrierte, dass die kaputte Fensterscheibe in einem der Wohnwagen, die dort standen, immer noch nicht repariert worden war, und setzte ihren Weg Richtung Wasser fort, wo sie eine Weile am Ufer entlanglief.
    Vier Enten watschelten lautlos davon. Es war Januar, einige Grad über Null, über eine Woche hatte es ununterbrochen geregnet, aber an diesem Nachmittag war der Himmel bleich und weiß.
    Sie atmete durch die Nase.
    An den Hängen lagen Berge von Laub, der Verrottungsprozess schien beendet zu sein, sie waren braun und glitschig, erinnerten in nichts an Leder.
    Wie dort.
    Kein Laut, keine Vögel oder Tropfen, nur ihre eigenen rhythmischen Schritte, das dumpfe Stampfen, als sie sich den Hügel hochkämpfte, schließlich wurde es hallender, sie hatte die Holzbrücke erreicht und wäre beinahe hingefallen. Die vom Wasser aufsteigende Feuchtigkeit hatte einen tückischen Belag gebildet, der die Avia-Sohlen ins Rutschen brachte.
    Nein! Nicht stehen bleiben, jetzt keine Schwäche zeigen, ihre Lungen brannten, ein stechendes und leises Röcheln, sie zwang sich weiter, als wäre sie er. Nathan.
    Du wärst stolz auf mich. Liebe mich.
     
    Zu Hause angekommen blieb sie gleich hinter der Tür stehen, lehnte sich gegen die Wand und schnürte sich die Schuhe auf. Riss sich die restlichen Kleider vom Leib, den roten, winddurchlässigen Overall, das Zeug darunter, den Sport-BH und die Unterhose. Breitbeinig stand sie da, streckte ihre Arme aus, ließ den Schweiß langsam verdunsten.
    Der Vogel flatterte von oben auf sie herab. Das Rauschen seiner Schwingen, er kollerte, knurrte ohne Unterlass. Er setzte sich in ihr Haar, klammerte sich mit seinen groben, glänzenden Krallen fest. Sie bewegte den Kopf, spürte ihn als warmes Gewicht mitten auf ihrem Schädel.
    »Hast du auf mich gewartet?«, fragte sie. »Du weißt doch, dass ich immer wiederkomme.«
    Sie strich ihm über den Rücken und scheuchte ihn dann weg. Mit griesgrämigem Gurren verschwand er in der Küche.
    Auf dem dicken Teppich im Esszimmer machte sie ein paar Stretchingübungen, die sie sich aus einem Gymnastikprogramm im Fernsehen abgeguckt hatte. Sie war nie besonders wild darauf gewesen, etwas gemeinsam mit anderen zu unternehmen. Scheu, hatte Nathan sie genannt. Anfangs war es das gewesen, was ihn am meisten angezogen hatte.
    Sie war nach wie vor nicht gerade schlank, aber die Zeit dort in der Ferne hatte ihrem Körper eine neue Form gegeben, sie sah schmaler aus, auch wenn die Waage weiterhin achtundsiebzig Kilo anzeigte. Sie stand lange unter der Dusche, glitt mit dem Schwamm über ihren Bauch, die Schenkel, in die Kniekehlen.
    Dort in der Ferne war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht nach sauberen europäischen Duschen gesehnt hätte, nach einem Fußboden unter ihren Füßen, gekachelten Wänden.
    Martina und sie hatten in dem gelben Flusswasser gebadet, aber der Geruch von Staub und Schlamm fraß sich in die Poren und war nicht wegzubekommen. Anfangs widerstrebte es ihr, in den Fluss zu steigen. Sie dachte daran, was sich unter der Oberfläche alles bewegen mochte: Schlangen, Piranhas, Blutegel. Doch eines Morgens war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als in voller Montur die Stromschnellen zu durchqueren. Es gab keinen anderen Weg. Danach hatte sie keine Angst mehr gehabt.
     
    Sie trocknete sich sorgfältig ab und cremte sich ein. Die Roma-Flasche war inzwischen fast leer und hatte die gleiche Form wie der Schiefe Turm von Pisa. Sie schnitt sie mit einer Schere auf und kratzte den Rest mit dem Zeigefinger heraus. Betrachtete für einen Moment ihr Gesicht im Spiegel, rotfleckig von der Hitze, nicht mehr jung. Zog Striche um die Augen, wie sie es immer getan hatte,

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