Gute Nacht: Thriller (German Edition)
mochte: Vivaldi. Vor allem Die Vier Jahreszeiten. Und von den vier Konzerten war ihm »Der Frühling« am liebsten. Nach einiger Zeit hatte er gar nichts mehr dagegen, im Wechsel mit dem kakofonen Müll, den er angeblich bevorzugte, Vivaldi laufen zu lassen.
Und dann passierte etwas – so langsam, dass Gurney es fast nicht bemerkte. Kyle fing an, nicht nur Vivaldi zu hören, sondern auch Haydn, Händel, Mozart, Bach. Und er achtete dabei nicht einmal mehr auf einen strikten zeitlichen Ausgleich.
Jahre später ließ er gegenüber Madeleine beiläufig fallen, dass ihm »Der Frühling« eine magische Tür geöffnet habe. Dass sein Vater ihn mit diesem Werk bekannt gemacht hatte, rechnete er ihm hoch an.
Gurney erinnerte sich, wie ihm Madeleine von dieser Äußerung erzählt hatte. Und wie seltsam er sich damals fühlte. Froh natürlich, dass seine Initiative so ein positives Echo ausgelöst hatte. Aber auch traurig, weil es bloß eine Kleinigkeit mit bescheidenem Einsatz gewesen war. Er fragte sich, ob es nur deshalb diesen hohen Stellenwert für Kyle besaß, weil es so wenige väterliche Gesten gegeben hatte, die damit konkurrieren konnten.
Die gleichen widerstreitenden Emotionen erfüllten ihn auch jetzt, als er die offene Karte in Händen hielt und die anmutige Barockmelodie allmählich verklang. Seine Sicht trübte sich, und einigermaßen beunruhigt stellte er fest, dass er schon wieder Tränen in den Augen hatte.
Verdammt, was ist denn bloß los mit mir? Jetzt reiß dich mal zusammen, Gurney!
Er trat zur Spüle und wischte sich mit einem Küchentuch grob über die Augen. In den letzten zwei Monaten hatte er öfter mit den Tränen gekämpft als wahrscheinlich in den ganzen Jahren seines Erwachsenenlebens zu-
vor.
Ich muss was tun – irgendwas. Was bewegen, was erreichen.
Als Erstes fiel ihm ein, eine Aufstellung der wichtigsten bei dem Feuer vernichteten Gegenstände zu machen. Danach würde die Versicherung bestimmt fragen.
Eigentlich hatte er keine Lust dazu, doch er raffte sich trotzdem auf. Er holte einen Notizblock vom Schreibtisch im Arbeitszimmer, stieg ins Auto und fuhr hinunter zu der verkohlten Ruine.
Als er ausstieg, verzog er das Gesicht, denn beißend drang der Geruch der nassen Asche in seine Nase. Von irgendwo weiter unten an der Straße drang das unregelmäßige Jaulen einer Kettensäge herauf.
Widerwillig näherte er sich dem Haufen verbrannter Bretter, die in dem verzogenen, immer noch stehen gebliebenen Gerüst der Scheune verstreut lagen. Von den beiden leuchtend gelben, auf zwei Sägeböcken ruhenden Kajaks war nur eine undefinierbare bräunliche Masse übrig geblieben. Er hatte sie nie besonders gemocht, aber für Madeleine war es eine der größten Freuden, unter dem Sommerhimmel auf einem Fluss dahinzupaddeln. Der Anblick der zerstörten, zu petrochemischer Pampe erstarrten kleinen Boote machte ihn traurig und wütend. Nicht weniger schlimm war es Madeleines Fahrrad ergangen. Reifen, Sattel und sämtliche Kabel waren geschmolzen. Die Felgen hatten sich verformt.
Er zwang sich, mit Block und Stift langsam die hässliche Szenerie zu erkunden und die wesentlichen Verluste an Werkzeug und Geräten festzuhalten. Als er fertig war, stieg er angewidert zurück ins Auto.
In seinem Kopf überschlugen sich die Fragen. Die meisten ließen sich auf ein einziges Wort reduzieren: Warum?
Keine der naheliegenden Hypothesen überzeugte ihn.
Vor allem nicht die Theorie vom erzürnten Jäger. In der Gegend gab es zahllose ›Jagen-verboten‹-Schilder, doch keine entsprechende Anzahl brennender Scheunen.
Was sonst konnte dahinterstecken?
Ein Brandstifter, der sich in der Adresse geirrt hatte? Ein Pyromane, der unbedingt irgendetwas in Brand stecken musste? Hirnlose junge Vandalen? Ein Feind aus Gurneys Polizeivergangenheit, der verspätet seine Rachefantasie auslebte?
Oder hatte es doch mit Kim und Robby Meese zu tun? Mit den Mordwaisen ? War der Brandstifter der Flüsterer im Keller?
Lass den Teufel schlafen. Wenn dieser Spruch aus einer Geschichte stammte, die Kims Vater ihr als kleinem Kind erzählt hatte, wie sie behauptete, dann war die Mahnung für sie bestimmt gewesen. Nur für Kim hatten diese Worte eine besondere Bedeutung. Warum hatte der Eindringling sie dann Gurney ins Ohr geflüstert?
Hatte er vielleicht geglaubt, dass Kim die Treppe hinuntergefallen war?
Ein derartiger Irrtum schien kaum denkbar. Nach dem Sturz hatte Dave zunächst Kims Kreischen in dem kleinen Flur hinter
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