Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Ärger nicht anmerken zu lassen. »Wann können Sie am Sonntag hier sein?«
»Wann Sie wollen. Je früher, desto besser.«
»Schön. Dann kommen Sie um neun.«
»Wohin?«
»Es gibt keine Postadresse. Bleiben Sie dran, mein Assistent beschreibt Ihnen den Weg. Ich rate Ihnen, alles genau aufzuschreiben, Wort für Wort. Die Straßen hier oben sind unberechenbar und die Seen tief. Und sehr kalt. Sie wollen sich doch nicht verirren.«
Die Warnung klang beinahe komisch.
Beinahe.
Nachdem er sich die Wegbeschreibung zum Lake Sorrow notiert hatte, kehrte er in die Küche zurück. Kim und Kyle auf der BSA durchquerten inzwischen schon die untere Wiese. Blass brach die Sonne durch die dünner werdenden Wolken, und die verchromten Teile der Maschine blitzten.
Gurneys Gedanken verloren sich in einem ausufernden Labyrinth von Und-wenn-Möglichkeiten und wurden erst vom Geräusch eines herabstürzenden Kleiderbügels im Flur unterbrochen.
»Maddie?«
»Ja?« Kurz darauf erschien sie in der Tür, konservativer angezogen als sonst – das hieß, weniger wie ein Regenbogen.
»Wo willst du denn hin?«
»Wo werde ich schon hinwollen?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen.«
»Was für ein Tag ist heute?«
»Freitag?«
»Und?«
»Ach so. Eine deiner Gruppenveranstaltungen in der Klinik.«
Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck, in dem sich Amüsement, Ungeduld, Liebe und Sorge mischten. »Soll ich wegen der Versicherung was machen? Oder willst du dich darum kümmern? Ich nehme an, wir müssen jemanden anrufen.«
»Stimmt. Wahrscheinlich unseren Agenten in der Stadt. Ich seh mal nach.« Eine leichte Aufgabe, die ihm seit dem Morgen mehrmals eingefallen und wieder entfallen war. »Am besten, ich tu es gleich, bevor ich es vergesse.«
Sie lächelte. »Egal was passiert, wir stehen es durch. Das weißt du doch, oder?«
Er legte die Notizen zum Lake Sorrow auf den Tisch und trat zu ihr, um sie zu umarmen. Er küsste sie auf die Wange und den Hals, dann drückte er sie einfach fest an sich. Sie erwiderte die Umarmung und schmiegte sich in einer Weise an ihn, die ihn bedauern ließ, dass sie zur Arbeit musste.
Schließlich löste sie sich von ihm und sah ihm mit einem leisen, zärtlichen Lachen in die Augen, wandte sich ab und ging durch die Seitentür hinaus zu ihrem Auto.
Er starrte durchs Fenster, bis der Wagen längst verschwunden war.
Sein Blick fiel auf einen Notizzettel, der an die Wand über der Anrichte geklebt war. Ein kurzer, mit Bleistift geschriebener Satz stand darauf. Er beugte sich vor und erkannte Kyles Handschrift: Vergiss die Geburtstagskarte nicht.
Ein kleiner Pfeil deutete auf die Anrichte, wo der türkisfarbene Umschlag lag, der das Geschenk begleitet hatte. Die unverkennbare Tiffany-Farbe erinnerte ihn auf unbehagliche Weise an Kyles Hang zum Geldausgeben.
Er zog die Karte aus dem Umschlag und las erneut die Aufschrift: Eine Geburtstagsmelodie nur für Dich.
Immer noch in der Erwartung, gleich eine aufdringliche Version von »Happy Birthday« zu hören, öffnete er die Karte. Drei oder vier Sekunden lang kam nichts – vielleicht damit genug Zeit blieb, um die zweite Nachricht innen zu lesen: Alles Liebe zu Deinem großen Tag.
Und dann begann eine herrlich melodische Musik, die fast eine Minute dauerte – der Beginn des Konzerts »Der Frühling« aus Vivaldis Vier Jahreszeiten.
Angesichts der Größe des Soundchips, die unter der eines Pokerjetons lag, war die Klangqualität bemerkenswert gut. Doch nicht das bewegte Gurney, sondern die lebhaften Erinnerungen, die in ihm wach wurden.
Kyle war elf oder zwölf gewesen und kam immer noch am Wochenende vom Haus seiner Mutter auf Long Island in die Wohnung von Dave und Madeleine in der Stadt. Er zeigte ein erstes Interesse an der Art von Musik, die für elterliche Ohren kriminell, roh und einfach nur dumm klang. Also stellte Gurney eine Regel auf: Kyle konnte sich jede Musik anhören, nach der ihm der Sinn stand, aber er musste genauso viel Zeit einem klassischen Komponisten widmen. Das hatte einen doppelten Effekt: Zum einen war Kyle weniger der furchtbaren Musik ausgesetzt, die seine jugendlichen Ohren anscheinend anzog, und zum anderen lernte er dadurch Meisterwerke kennen, die er von sich aus nicht angehört hätte.
Dieses Arrangement funktionierte nicht ohne Spannungen und Diskussionen. Doch es führte auch zu einer erfreulichen Überraschung. Kyle stellte fest, dass er einen der von Gurney empfohlenen klassischen Komponisten
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