Gute Nacht Zuckerpüppchen
war ihre eigene Schuld, sie hätte es wissen müssen. Noch einmal würde so etwas nicht geschehen.
Als Anne eines Mittags zum Schularbeitenmachen mit zu Gaby kam, weil Annes Mutter nicht da war, ließ Gaby sie keinen Moment aus den Augen. Wenn Anne zur Toilette mußte, stellte sie sich im Gang auf. »Was tust du denn?« fragte Pappi. »Hältst du hier Wache?«
Gaby antwortete nicht, sah ihn nur an.
»Blödes Weibervolk«, murmelte Pappi und gab ihr im Vorbeigehen einen Schubs. »Mach gefälligst Platz.«
Pappi war jetzt immer zu Hause. Seine Lunge war angeblich so schlecht, daß er nicht mehr arbeiten konnte. Alle naselang mußte er zum Vertrauensarzt. »Sieht aus, als wenn ich die Herren einwickele«, sagte er und paffte eine Zigarette nach der anderen. »Ich will meinen Schwerbehindertenschein. Dann bin ich fein raus.«
Mutti sagte nicht viel dazu. Sie hatte ihre Arbeitsstelle als technische Zeichnerin aufgegeben. Die Schwangerschaft machte ihr zu schaffen. Sie hatte zuviel Wasser, und ihre Beine waren zu unförmigen Stampfern angeschwollen.
»Wann bekommt deine Mutter das Kind?« fragte Anne. »Sie sieht aus, als würde sie bald platzen.«
»Im September. Dr. Rehbein hat gesagt, sie ist viel zu dick. Noch zwei Monate geht das so weiter.«
Sie zeigte Anne eine Decke, die sie für das Kleine häkelte.
»Hellblau?« fragte Anne. »Und wenn es ein Mädchen wird?«
5
Pappi brachte Gaby zum Bahnhof. Für Mutti war es zu anstrengend, sie konnte kaum noch laufen.
»Wenn du Ende August zurückkommst, habe ich es bald geschafft, Mäuschen. Erhole dich gut im Odenwald. Pappi und ich kommen gut allein zurecht.«
Täuschte sie sich, oder war Mutti froh, daß sie wegging? Dabei hatte Gaby ein schlechtes Gewissen, daß sie Mutti mit Pappi allein ließ. Achim war schon vor einer Woche von der Caritas verschickt worden.
Als sie mit Achim darüber sprach, hatte er nur mit den Schultern gezuckt: »Sie wollte es doch nicht anders. Ein Kind! Von ihm!«
Achim veränderte sich in der letzten Zeit sehr. Er war größer als Pappi geworden, und seine Oberlippe sah immer schmuddelig aus, aber das lag an den kleinen Härchen, die dort wuchsen.
»Passen Sie gut auf mein Zuckerpüppchen auf«, sagte Pappi zu dem Transportbegleiter. Dabei drückte er Gaby so fest an sich, daß es ihr weh tat.
»Natürlich, Herr Malsch. Ihre Tochter ist bei uns in guten Händen.«
Gaby befreite sich aus Pappis Umklammerung. »Ich steige jetzt in den Zug.«
Sie stand am Zugfenster und sah auf Pappi herab. In den letzten fünf Jahren war sein Haarkranz dünner geworden. Seinen Schnurrbart färbte er immer noch. Die wässrig blauen Augen ließen sie nicht los. »Bleibe ein liebes Engelchen. Vielleicht ist dein Schwesterchen schon da, wenn du zurückkommst.«
Sein voller Mund zuckte amüsiert, als sie ihr Erschrecken nicht verbergen konnte. »Manchmal kommen Kinder früher. Ich verspreche dir, dann holen wir dich zusammen mit ihr vom Zug ab. Findest du Eva einen schönen Namen?«
Ihre Ferieneltern hießen Ehrenreich. Sie hatten eine erwachsene Tochter Gerda und einen Sohn Toni. Toni war verlobt.
»Was für ein mageres Vögelchen!« Frau Ehrenreich schüttelte fassungslos den Kopf, als Gaby sich abends vor dem Waschzuber wusch. Die Männer hatte sie hinausgeschickt. »Habt ihr denn nicht genug zu essen in der Stadt?«
Gaby trocknete sich ab. »Doch, zu essen haben wir.«
Als sie etwas später alle um den blank gescheuerten Holztisch saßen, gingen Gaby allerdings die Augen über, was es hier alles zu essen gab: zarter Schinken, geräucherte Wurst, Butter, Schmalz mit darin goldbraun gebackenen Zwiebeln und herrlich frisch duftendes Brot.
Die Ehrenreichs arbeiteten hart, jeder half mit auf dem Feld, bei der Ernte und im Haus. Gaby versuchte, sich auch nützlich zu machen. Doch bei der Ernte reichten ihre Kräfte nicht aus, um die Garben hochzuschichten, und beim Harken wurde der Rechen stets schwerer in ihrer Hand. Im Haus nahm Gerda ihr die begonnene Arbeit wieder aus der Hand: »Laß man, Kind, geh an die frische Luft. Ich mache das schon.«
Einmal hörte sie die Bäuerin sagen: »Ein eigenartiges Kind. Habt ihr ihre Augen gesehen? Das sind doch keine Kinderaugen!«
Toni lachte seine Mutter aus. »So ein verschüchtertes Großstadtpflänzchen, das guckt anders in die Welt als unsere Kinder hier.«
»Lehre du mich die Menschen kennen«, bestand Frau Ehrenreich auf ihren Worten. »Das ist kein Kind mehr.«
»Sie ist noch keine
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