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Gute Nacht Zuckerpüppchen

Gute Nacht Zuckerpüppchen

Titel: Gute Nacht Zuckerpüppchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Glade-Hassenmüller
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sprechen.«
    »Ich muß gehen, meine Mutter wartet.« An der Tür drehte Gaby sich noch einmal um. »Übrigens, mein Vater ist tot.«

    Das hatte sie auch am ersten Tag in der neuen Schule gesagt. Jeder mußte ein Namenskärtchen vor sich hinstellen, und Fräulein Moll ging von Tisch zu Tisch und bat die Kinder, etwas von sich zu erzählen.
    Mehr als die Hälfte der Kinder hatten keinen leiblichen Vater mehr, drei lebten bei Verwandten, weil Vater und Mutter tot waren.
    »Ich bin Halbwaise«, begann Gaby zögernd, »und habe einen Bruder.«
    »Ihr lebt allein bei eurer Mutter?« fragte Fräulein Moll.
    Gaby errötete: »Nein, meine Mutter hat wieder geheiratet. Ihr Mann lebt auch bei uns.«
    Fräulein Moll schüttelte etwas unwillig ihre grauen Federlöckchen. »Das ist dann dein Stiefvater.«
    »Ja«, Gaby räusperte sich. »Aber mein Bruder und ich heißen noch immer Mangold.« Es war ihr auf einmal sehr wichtig, daß sie nicht seinen Namen trug. Sie wußte, daß er sie nur wegen der Halbwaisenrente nicht adoptiert hatte. Mutti hatte es ihnen erklärt. »Pappi würde euch gerne adoptieren, aber dann fällt die Rente für euch weg. Das können wir uns nicht erlauben.«
    Fräulein Moll fuhr mit der Hand durch ihre Löckchen, als wolle sie sie ordnen. »Der Krieg hat mehr zerstört als unsere Häuser und unsere Familien.« Scheinbar zusammenhanglos fuhr sie fort: »Wir werden die nächsten sechs Jahre zusammen sein, und auf eins könnte ihr euch bei mir immer verlassen: auf Gerechtigkeit. Wenn ich euch Unrecht tue, beklagt euch bei mir.« Sie lächelte. »Allerdings bitte nach der Stunde. Wir werden dann über das Problem reden. Von euch erwarte ich Leistung und Mitarbeit. Das ist alles.«
    Gaby fühlte sich irgendwie erleichtert. Fräulein Moll wird nicht sagen, daß ein Segen auf mir ruht. Sie wird mich nach meinen Arbeiten beurteilen, und die werden gut sein. Sie wollte lernen, Anerkennung und Zuneigung durch Leistung bekommen, zumindest in der Schule keinen Druck im Nacken verspüren, die Angst vor der Tür lassen. Fräulein Moll würde sie vor Unrecht innerhalb der Schule schützen. Deshalb war sie zu Dr. Rehbein gegangen.

    Er hatte tatsächlich noch vor Unterrichtsbeginn bei Fräulein Moll angerufen. Fräulein Moll benutzte seinen Anruf für eine Stunde Gemeinschaftskunde.
    »Ihr glaubt, der Krieg ist vorbei, aber er ist noch in euch, in euren Brüdern und Schwestern, euren Eltern. Bombennächte, Schrecken und Entbehrungen haben euch alle geprägt. Vielleicht werdet ihr ein Leben lang keine Sirenen mehr hören können, ohne eine Gänsehaut zu bekommen. Manche von euch werden immer Angst vor Feuer haben, andere glauben zu ersticken, wenn sie sich in kleinen Räumen, in Kellern aufhalten müssen.«
    Sie sah zu Renate, die nervös mit einem Augenlid zuckte. Es sah aus, als blinzelte sie einem schelmisch zu.
    »Renate zum Beispiel war eine Woche unter Trümmern verschüttet. Könnt ihr euch vorstellen, wie schlimm das ist, wenn man nicht weg kann, gefangen sitzt im Dunklen? Todesangst hat?«
    Die Kinder sahen betreten auf ihre blank polierten Tische. Manch einer hatte Renate schon nachgeäfft und mit dem Lid gezuckt, als hätte man nicht nur ein Staubkorn, sondern ganze Kieselsteine im Auge.
    Fräulein Moll erhob ihre Stimme. »Die meisten von uns haben Schlimmes erlebt, auch wenn wir nicht darüber reden. Der eine oder andere von euch wird nachts schlecht schlafen, auf einmal aufschreien, morgens Kopfschmerzen haben. Gaby hat einen Hautausschlag, von dem man nicht weiß, woher er kommt. Bestimmt nicht, weil Gaby sich nicht gut wäscht. Ihr Arzt sagte, es ist ein nervöses Ekzem. Gaby ist mit ihrer Mutter ausgebombt worden und hat Nächte und Nächte im Luftschutzkeller verbracht. Viele von euch auch, ich weiß. Seid dankbar, wenn ihr kein nervöses Zwinkern habt, keinen Hautausschlag, aber macht den Schaden bei den anderen nicht noch größer.«
    Gaby hatte Fräulein Moll aufmerksam zugehört. So hatte sie das mit dem Krieg noch gar nicht gesehen. Alle waren froh, daß er vorbei war. Vielleicht hatten sie wirklich noch lange mit den Trümmern zu tun. Die auf den Straßen und Plätzen verschwanden jeden Tag etwas mehr, wurden abgeräumt, weggekarrt, beseitigt.
    Anne schob ihr einen Zettel zu: »Hilfst du mir bei den Hausarbeiten in Englisch?«
    Gaby nickte, schrieb zurück: »Gerne, heute mittag bei dir?«
    Sie hütete sich, noch einmal etwas Ähnliches zu erleben wie mit Elli. Das war ihr eine Warnung gewesen. Es

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