Gute Nacht Zuckerpüppchen
zwölf!« Ihr Sohn ließ seine Stiefel polternd fallen.
Gaby lief stundenlang über die Wiesen, warf sich irgendwann einmal in das hohe Gras. Weiße Margeriten, blaue Glockenblumen und roter Mohn deckten sie zu. Sie schloß die Augen und fühlte hinter ihren geschlossenen Lidern kleine, rote Sonnenkringel tanzen.
Und da spürte sie auf einmal diese wehe Gefühl von Sehnsucht, sich aufzulösen, zu verschmelzen, eins zu werden mit der Erde unter ihr, mit den summenden Insekten und dem kribbelnden Getier. Schlafen und nie wieder aufwachen. Keine Angst mehr zu haben.
Sie gehörte nirgends dazu. Mutti lehnte sie ab, sie fühlte es mehr und mehr. Ihre Umarmung war gleichzeitig ein Wegschieben. Nachdenklich sah sie Gaby oft an, als betrachtete sie eine Fremde.
Achim hatte seit kurzem eine Freundin. Christa war wunderschön, strahlte Frische und Unbekümmertheit aus.
Und hier bei den Ehrenreichs war sie geduldet. Man tat ein gutes Werk an ihr. »Sie ist kein Kind«, hörte sie die Bäuerin wieder sagen. Sie hatte das Kainszeichen auf ihrer Stirn gesehen. Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hatte. Und von Gott mit einem Zeichen versehen wurde, daß ihn niemand erschlüge. Kains Strafe: am Leben bleiben zu müssen.
Wenn Muttis Kind ein Mädchen werden würde? Mutti konnte sie nichts sagen. Wenn sie es glaubte, würde sie sich vielleicht wieder die Pulsadern aufschneiden. Oder sich aufhängen.
Damit hatte sie Pappi gedroht, Gaby hatte es gehört. »Wenn du mich noch einmal betrügst, hänge ich mich auf.«
War das Betrügen, was Pappi mit ihr tat?
Nie mehr aufzustehen, überlegte Gaby. Wenn ich hier liegenbleibe und sterbe, ist alles vorbei. Und wenn ich bereue, komme ich vielleicht doch in den Himmel. Dann war die Angst auch tot. Wie lebte man ohne Angst?
»Im Paradies ist jeder glücklich, da gibt es keinen Schmerz und keine Pein«, hatte Schwester Agnes ihr erklärt. »Man reicht einander die Hände, und ist ein Herz und eine Seele.«
Mit Elli war sie ein Herz und eine Seele gewesen.
Ich möchte eine Hand haben, nur eine einzige Hand, die mich führt und mir den Weg zeigt.
Die goldenen Sonnenkringel verschwanden, und lange Schatten legten sich auf Gabys Gesicht.
Frau Ehrenreich war böse. Sie stopfte Gabys dickes Federbett fest und prüfte die Wärme der Steinflasche an deren Füßen.
»Den Tod hättest du dir holen können. Einzuschlafen auf einer Wiese! Nachts ist es hier empfindlich kühl. Das solltest du doch wissen, daß man im Hellen zu Hause sein muß.«
»Nun laß man, Mutter.« Gerda schob sie zur Seite. »Gaby ist halt die Landluft nicht gewöhnt. Die heiße Milch mit Honig wird ihr guttun.« Sie stützte Gabys Kopf, während diese mit kleinen Schlucken die Milch trank. »Du tust ja gerade, als hätte Gaby es mit Absicht getan.«
Es hatte eine ziemliche Aufregung gegeben, als Gaby zum Abendessen nicht erschienen und auch danach nirgends zu finden war. Um neun Uhr, als es dämmerte, ging Toni sie mit dem Schäferhund Harras und zwei Freunden suchen.
Eine Stunde lang riefen die Männer sie und leuchteten mit Taschenlampen unter Sträuchern und Hecken. Der Hund stöberte sie schließlich auf.
»Wie eine Tote lagst du da«, erzählte ihr Toni. »Einen schönen Schrecken hast du uns eingejagt.«
Toni hatte sie nach Hause getragen, und Frau Ehrenreich hatte das apathische Kind als erstes in den mit heißem Wasser gefüllten Waschzuber gesetzt, anschließend mit Franzbranntwein abgerieben und dann ins Bett gepackt.
Gaby fühlte sich leer und traurig. Sie wäre gerne so leicht in ein anderes Leben hinübergegangen.
Nach der Kirche ging sie mit Toni und Martha spazieren. Martha war Tonis Verlobte. Sie hatte einen Silberblick. Vielleicht sah sie deswegen oft verlegen zu Boden.
»In drei Jahren heiraten wir, dann hat Martha die Aussteuer zusammen«, erklärte Toni Gaby und nahm die Hand seiner Braut. »Für einen Mann ist es nicht leicht, so lange zu warten. Aber wenn man eine Frau liebt und achtet, dann muß man Geduld haben.«
»Was erzählst du denn dem Kind«, protestierte Martha, und eine zarte Röte färbte ihre Wangen. »Das versteht sie noch nicht.«
Toni strich Gaby über den Kopf. »Ich glaube schon, daß sie das versteht. Oder etwa nicht, Gaby?«
Gaby sah zu Toni hoch. »Meinst du, wenn man jemanden liebt, tut man ihm nicht weh?«
Toni kickte einen Stein zur Seite. »Ja, das ist wahr. Wenn man jemand liebt, dann achtet man ihn und seine Gefühle.«
»Achten«, Gaby dachte nach.
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