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Gute Nacht Zuckerpüppchen

Gute Nacht Zuckerpüppchen

Titel: Gute Nacht Zuckerpüppchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Glade-Hassenmüller
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geballte Faust, die sich langsam vom Laken erhob, um dann kraftlos wieder zurückzufallen.
    Sie war gefangen. Mit der Rückkehr in ihren Körper kam auch die Erinnerung wieder. Der Schmerz blieb aus.

    »Ein Fehltritt«, beharrte sie gegenüber den Ärzten und Psychologen. »Ich habe mich zu weit vorgebeugt und bin aufs Gleis gefallen.«
    »Zeugen behaupten, du seist gesprungen?«
    »Gesprungen? Um Gottes willen, warum sollte ich?«
    »Liebeskummer? Schwanger? Schulprobleme?«
    »Eine Schwangerschaft scheidet aus«, bestätigte der Frauenarzt Gabys >Nein<.
    »Gaby geht fast nie aus«, sagte Mutti. »Ein sehr häusliches Kind. Sie hat gerade ihre Lehre begonnen, ein fleißiges Mädchen. Manchmal ein wenig patzig, aber ja, das ist das Alter.«
    Pappi sagte nicht viel. Er nickte bedächtig zu Muttis Worten. »Ja, ein folgsames Kind.« Er mied Gabys wachen Blick. Er wußte, daß sie wußte, was er getan hatte. Die kleinen Schweißtropfen auf seiner Stirn glitzerten vor plötzlicher Angst. Gaby sah es mit Genugtuung, aber sie schwieg. Dies war nicht die Stunde. Nicht hier im Krankenhaus zusammen mit Mutti und den Ärzten.
    Gaby wußte, die Stunde würde kommen. Er würde bezahlen. Nicht erst im Jenseits. Jetzt hatte sie Zeit.

    Nach zwei Wochen wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen.
    »Du bist gefallen wie eine Katze«, sagte der junge Stationsarzt bei der abschließenden Untersuchung. »Andere hätten sich aus der Höhe zumindest die Beine gebrochen. Du bist mit einigen Abschürfungen davongekommen.«
    »Immerhin war ich drei Tage bewußtlos«, erinnerte ihn Gaby.
    »Na ja, der Schreck. Der Zug hat dich ja nur um Haaresbreite verfehlt. Kein Wunder, daß du einen schweren Schock hattest.«
    »Ich kann mich nicht erinnern«, meinte Gaby nachdenklich. Tatsächlich waren die letzten bewußten Bilder auf dem Bahnhof, die vielen Menschen um sie herum, gesichtslos, durch die sie sich einen Weg in die Freiheit bahnen wollte. Und davor Horst.

    Mutti und Pappi holten sie aus dem Krankenhaus ab. »Wie konnte das nur geschehen?« fragte Mutti wieder.
    »Jedes kleine Kind weiß doch, daß man nicht zu dicht an die Bahnsteigkante gehen darf.«
    Gaby nickte. »Ich war sehr unvorsichtig. Es tut mir leid.«

    »Krieg«, sagte Gaby Montagabend. Mutti war zum Bridge gegangen. Mark schlief rosig und zufrieden in seinem Bettchen.
    Verwundert hatte Gaby die letzten drei Wochen auf Pappis Annäherung gewartet. Auf einmal bewegte er sich als Neutrum durch die Wohnung, machte keine Anspielungen, fragte nichts. Geduld, hieß wahrscheinlich seine neue Taktik. Jeder Tag länger heilt Wunden, glättet Narben. Er irrte.

    Gaby wusch das Geschirr ab, als er in die Küche kam.
    »Ich helfe dir beim Abtrocknen«, sagte er, »dann bist du schneller fertig.«
    »Nicht nötig«, meinte Gaby.
    Er lehnte mit dem Rücken gegen den Küchenschrank und sah ihr einige Augenblicke wortlos zu.
    »Es ist Montagabend«, sagte er dann.
    »Ich weiß«, antwortete Gaby und spülte das Besteck ab.
    »Unsere Abmachung?«
    Langsam drehte Gaby sich um und sah fest in seine wässrigblauen Augen.
    »Nie wieder«, sagte sie.
    Er reckte sich, schob seine Unterlippe vor und seine Lider verengten sich.
    »Wie meinst du das? Ich bekomme immer, was ich will, hast du das vergessen?«
    »Nein«, sagte Gaby und griff hinter sich.
    »Nun denn, was soll das? Du machst es uns beiden nur unnötig schwer.« Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie packte das Messer und hielt es vor sich. Es war das lange Brotmesser mit gezackter Klinge.
    »Krieg!« sagte sie.
    Er wich zurück, ungläubig sah er auf das Messer. »Und Mutti?« fragte er seltsamerweise.
    »Willst du es ihr sagen?« fragte Gaby. »Ich nicht.«
    »Sei vernünftig«, bat Pappi. »Es ging doch lange gut.«
    Sie sah ihn an. Es ging lange gut. Er wußte ganz genau, daß er sie von Anfang an unter Druck gesetzt hatte: mit der Angst vor der Entdeckung, mit Mutti, mit Geschenken, mit Drohungen, mit Zuwendung, mit Gewalt. Sie antwortete nicht.
    »Du wirst ihn vergessen«, sagte Pappi und strich sich über die Glatze. »Er war kein Mann für dich.«
    »Ich habe ihn vergessen«, sagte Gaby.
    »Was ist es dann?«
    »Ich hasse dich!« sagte Gaby.

15

    Mit ihr zusammen war noch ein anderer Lehrling eingestellt worden: Norbert Wahl. Vom ersten Tag an spürte sie, daß er sie mochte. Norbert war groß, dünn und pickelig. Seine Augen blickten wie die eines getretenen Hundes.
    »Sei doch nicht so nervös«, flüsterte Gaby ihm zu, weil er

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