Gute Nacht Zuckerpüppchen
tun, was ich sage.«
Es war typisch für Norbert, nicht weiter zu fragen. Er vertraute ihr. Was sie tat, war richtig, keine Wunschvorstellung, wie sie sein sollte. Für ihn war sie wunderbar, so wie sie war.
Norbert holte sie von zu Hause ab. Sie wollten zusammen ins Kino gehen. Gaby hatte die Erlaubnis, bis abends zehn Uhr auszugehen. Pappi betrachtete Norbert wie ein Kuriosum. »Sie sind also Gabys neue Liebe?« fragte er ihn spöttisch. Norbert wurde blutrot.
»Ich, ich weiß nicht«, stotterte er verlegen.
Pappi genoß die Situation, wippte unternehmungslustig mit seinem Fuß, lehnte sich im Stuhl zurück, verschränkte die Hände über der Brust und klopfte mit seinem Daumen den Takt einer unhörbaren Melodie.
Gaby schmiegte sich betont liebevoll an Norbert. »Wenn du nichts dagegen hast«, blitzte sie Pappi an.
»Er hat gute Augen, dein Norbert«, sagte Mutti später leise zu Gaby.
»Er ist gut«, sagte Gaby.
Martie nahm die bunte Ansichtskarte in die Hand. »Darf ich sie mir ansehen?« fragte sie.
Gaby beugte sich über ihre Schultern. Sie duftet wie ein Frühlingsmorgen. Ein Duft, den ich nie gehabt habe.
»Die Karte ist von meinem großen Bruder Achim«, erklärte sie.
»Ich wußte nicht, daß du außer Mark noch einen Bruder hast?«
»Er ist schon Jahre weg. Er fährt zur See.«
»Kommt er denn nicht zu Besuch?«
»Nein, er fährt unter fremder Heuer, das heißt, für ein anderes Land.« Sie holte tief Luft, lenkte ab: »Sieh einmal, die Karte ist aus San Francisco, er macht in Kalifornien Urlaub, schreibt er.«
»Was für eine tolle Brücke! Die reicht bis zu den Wolken.«
»Ja, so sieht es wirklich aus.« Gaby nickte, seufzte dann. »Leider gibt es keine Brücken direkt in den Himmel.«
Martie sah träumerisch an ihr vorbei zu den blassen Federwolken, die von der untergehenden Sonne zartrosa angehaucht wurden. »Gedanken und Wünsche kennen doch keine Grenzen, brauchen keine stählernen Brücken.«
Gaby setzte sich ihr gegenüber. »Ich glaube, von dir kann ich noch etwas lernen. Wovon träumst du denn? Oder darf ich das nicht wissen?«
Martie saß Gaby nachdenklich an und grub wieder ihre Zähne in ihre Unterlippe. »Doch«, sagte sie dann. »Ich glaube, du lachst nicht.«
»Bestimmt nicht«, versprach Gaby.
»In der Schule lachen sie mich aus. Sie sagen, ich bin eine Schlafwandlerin, weil ich soviel träume.«
Sie strich mit ihren Fingerspitzen über die glänzende Ansichtskarte. »Ich möchte überall in der Welt hinreisen. Alle Menschen sollen mich kennenlernen. Ich möchte für sie ihre Träume und Wünsche spielen.«
»Du willst Schauspielerin werden?«
Martie zog die Schultern hoch. »Ich möchte in immer andere Menschen schlüpfen. Ihnen meine Seele geben.«
Einen kurzen Moment dachte Gaby an ihre Erfahrung im Krankenhaus, als ihr eigener Körper für sie nur noch eine leblose Hülle war. Doch das meinte Martie nicht. Schnell schob sie die Erinnerung zur Seite.
»Ich glaube, eine gute Schauspielerin empfindet ihre Rolle so, wie du es gerade gesagt hast«, überlegte Gaby. »Aber laß uns erst einmal versuchen, daß du die Schule schaffst. Als Voraussetzung für die Schauspielschule.«
Martie seufzte tief. »Es ist so langweilig, Zahlen, Vokabeln, tote Gegenstände.«
»Dann hauchen wir denen doch Leben ein«, knüpfte Gaby den Faden von ihrem Gespräch weiter. »Wir erfinden zum Lehrstoff eigene Geschichten.«
»Wie meinst du das?«
»Nun, aus den englischen Vokabeln basteln wir uns noch eine eigene Fassung.« Gaby blätterte in Marties Englischbuch. »Hier, die Geschichte am Bahnhof. Der Zug fährt ein.« Gaby stockte eine Sekunde, dann las sie schnell weiter. »Jenny will zu ihrer Oma. Wir fragen uns: Warum will sie zu ihrer Oma? Wie ist ihre Oma? Vielleicht ist ihre Oma eine Hexe?«
Martie lachte. »Ich liebe Hexen. Mit einer Hexen-Oma gefällt mir die Lektion schon besser.«
»Gut so.« Gaby nahm das Biologiebuch. »Die Pflanzen beginnen für uns zu leben, sie erzählen uns Geschichten von summenden Bienen und eitlen Schmetterlingen. Und in Erdkunde...«
»Da reisen wir selber«, Marties Augen begannen zu glänzen. »Wir füttern die Tauben auf dem Markusplatz.«
»Wir steigen zusammen auf den schiefen Turm von Pisa.»
»Wir fahren mit dem Raddampfer auf dem Mississippi.«
»Und ich sitze in der Loge, wenn du in der Metropolitan spielst.«
»Was ist die Metropolitan?« wollte Martie wissen.
»Eine große Oper in New York.«
»New York«, wiederholte
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