Guten Morgen, meine Schoene
Wagen von der Straße gedrängt. Dem LKW-Fahrer ist nichts geschehen, doch Mr. Morgan…«
Alles schien sich zu wiederholen. Auf die gleiche Weise hatte sie damals auch von Chance’ Tod erfahren. Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste Sarah.
»… wurde verletzt, Ma’am, und ins St. Mary’s Hospital gebracht.«
Verletzt. Nicht getötet.
Vor Erleichterung lehnte sie sich gegen den Türrahmen und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, bemerkte sie, dass der Polizist sie besorgt musterte.
»Alles in Ordnung, Ma’am?«
Sie tat seine Frage mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.
»Sind Mr. Morgans Verletzungen lebensgefährlich?«
»Er ist mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett geprallt, und solche Verletzungen sind nie ungefährlich. Als wir zur Unfallstelle kamen, war er bewusstlos.«
»Wohin, sagten Sie, haben Sie ihn gebracht?«
»Nach Kentonville. Der Ort liegt zehn Meilen flussauf-wärts von hier, und das Krankenhaus befindet sich direkt an der Hauptstraße am Ende der Stadt. Sie können es nicht verfehlen.«
Das St. Mary’s Hospital war ein aprikosenfarbenes, stuck-verziertes Gebäude, gelegen zwischen einem Hotel und der öffentlichen Bibliothek.
Nachdem Sarah an der Anmeldung erfahren hatte, wo ihr Schwager lag, fuhr sie mit den Kindern im Aufzug in den dritten Stock und machte sich auf die Suche nach Zimmer 345.
Nach nur wenigen Schritten wurde sie von einer stämmigen, rothaarigen Schwester angesprochen: »Darf ich fragen, wohin Sie und die Kinder wollen?«
Sarah blieb stehen. »Mein Name ist Sarah Morgan. Ich suche einen Patienten namens…«
»Besuchszeit ist erst ab vierzehn Uhr. Wie heißt der Patient denn?«
»Jedidiah Morgan. Er liegt auf Zimmer 345. Tut mir Leid, wir werden später wiederkommen.«
»Mr. Morgan hat eine leichte Gehirnerschütterung. Der Arzt hat ihm für die nächsten Stunden absolute Ruhe ver-ordnet. Ich glaube, es wäre vernünftiger, ihn heute nicht zu besuchen.«
»Dann fahren wir wohl besser wieder nach Hause.« Sarah verspürte ein schlechtes Gewissen, weil sie nichts lieber tat als das.
»So, wie es aussieht, können wir Mr. Morgan bereits morgen wieder entlassen. Im Moment wird hier jedes Bett dringend benötigt. Rufen Sie uns doch morgen früh an.
Vielleicht können Sie ihn dann schon abholen. Er darf selbst noch nicht ans Steuer.
Abgesehen davon, ist sein Auto nur noch ein Schrotthau-fen.«
Unwillkürlich lief Sarah eine Gänsehaut über den Rü-
cken.
Auch der Wagen ihres Mannes war damals bei dem Unfall völlig zerstört worden, doch im Gegensatz zu seinem Bruder hatte Chance kein Schutzengel beigestanden.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte die Schwester. »Sie sehen auf einmal so blass aus?«
Sarah lächelte schwach. »Das sind nur die Nachwirkungen des Schocks.«
Die Schwester schien mit sich zu kämpfen, dann beugte sie sich vor und flüsterte: »Wissen Sie was? Der Patient schläft jetzt, aber Sie können einen kurzen Blick auf ihn werfen.
Ich passe inzwischen auf die Kinder auf.«
Dieses freundliche Angebot konnte Sarah schlecht ab-lehnen, obwohl sie es gern getan hätte. Sie täuschte ein dankbares Lächeln vor. »Das ist sehr nett von Ihnen«, bedankte sie sich und öffnete die Tür zu Zimmer 345.
Ihr Schwager lag flach auf dem Rücken in einem schmalen Bett. Seine Augen waren geschlossen, und er hatte die Arme angewinkelt und die Hände über der Brust gefaltet. Falls er irgendwo am Kopf eine Beule hatte, war sie von seinem dichten Haar verdeckt. Er war sehr blass im Gesicht, und der dunkle Bartschatten auf Kinn und Wangen ließ seine Haut noch fahler erscheinen.
Ohne zu überlegen, was sie tat, ging Sarah leise zum Bett und betrachtete ihn. Ihr fiel auf, dass er trockene Lippen hatte.
Übrigens waren es sehr sinnliche Lippen, etwas schmaler als die von Chance. Dafür waren seine dunklen Wimpern länger und dichter als die ihres verstorbenen Mannes, die Wangen straffer und das Kinn energischer. Die beiden Brü-
der sahen sich also doch nicht so unverwechselbar ähnlich, wie sie ursprünglich gedacht hatte.
Unerwartet schlug er die Augen auf. »Wer, zum Teufel, sind Sie?« fragte er mit schwerer Zunge.
Vor Schreck trat Sarah einen Schritt zurück. Bestimmt würde er wütend werden, wenn er sie erkannte. Ihre Anspannung ließ jedoch nach, als sie den leeren Ausdruck in seinen Augen bemerkte. Offenbar litt er noch unter den Nachwirkungen des Unfalls, oder man hatte ihm ein Beruhigungsmittel gespritzt.
»Ganz ruhig.« Sie legte
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