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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Vergleich, ein Getränk, das mit der ins Rosige schimmernden Färbung auch nicht so aussah …
    … wie Supermarktmilch sah sie sicher auch nicht aus …
    … die erste chemisch erzeugte Imitation eines natürlichen Getränks, die mir verabreicht wurde, eine frühe Einübung ins Unvermeidliche der späteren Verfälschungen … diese Trockenmilch, eine Geschmacksverirrung, eine Enttäuschung … nicht gestillt worden zu sein, das sagt doch alles, das genügt doch …
    … stilisier dich hier nicht wieder zum Opfer …
    Wenn Frau Richters Stories nur andeutungsweise zutreffen …
    … deine Mutter kann mit einer Wahrsagerin befreundet gewesen sein, ganz normal, ohne etwas von ihrem Fachwissen, von ihren übersinnlichen Diensten abgefordert zu haben, sagte Ella schließlich.
    Wenn die Andeutungen stimmen, sagte ich, dann bleibt’s dabei – eine Frau, die jeden Morgen zur Wahrsagerin geht, einfach unmöglich so was, eine Idiotin also, völlig klar.
     

D er Zettel mit diesen Songtiteln hatte schon seit Tagen auf meinem Schreibtisch gelegen … eine wie vom Zufall diktierte, tatsächlich jedoch beim Lauern auf Ellas Anruf entstandene Liste, deren jeder einzelne alte Hit wie eine proustsche Madeleine wirkte und weit, sehr weit in die Vergangenheit zurückführte –
     
    Peggy Sue
    Let the good times roll
    The green leaves of Summer
    Yakety Yak
    Rolling … Rolling
    Only you
    Bye Bye Loneliness
    I’m a yesterday man
    Someone to love
     
    Beim Mann nebenan war’s wieder mal soweit – Zeit für die Wiederholung der Charts der frühen Sixties, von arbeitsloser Hand Stück für Stück am Stück seit Wochen durch die Wand rübergespielt … ein, zwei Stunden vormittags, ein, zwei Stunden nachmittags. Dann lief einer seiner drei, vier Tonträger mit diesen irgendwann vermutlich von ihm selbst archivierten, historischen Ohrwürmern, die im einzelnen erfreulich sein könnten, nonstop vom laufenden Band aber nicht. Tag für Tag erklangen sie in immergleicher Reihenfolge, eine so gnadenlos naive wie sentimental besetzte Musiksoße, aus der die Erinnerungen auftauchten wie verlorene Container im Ozean. Seine konstant bleibende Hitparade rauschte schon seit Jahren lautstark durchs zu dünne Gemäuer – ein Ärgernis, die Hellhörigkeit in Altbauten wie dem unsrigen, vom Bombenkrieg verschont, optisch perfekt saniert, doch irgendwie porös und unzureichend schallgedämmt, da vor hundert Jahren vom Baumaterialienbetrug betroffen, einer anderen bekannten Berliner Misere.
     
    Silence is golden
    Tell laura I love her
    I remember you
    – undsoweiter, undsofort.
     
    Sein Programm wurde offenbar von der Natur selbst in Gang gesetzt, von den ihm morgens klar werdenden Veränderungen der Jahreszeit. Bei spürbar erstarkendem Sonnenschein im Frühling oder, andersherum, in den ersten erkennbar eindunkelnden Tagen des Herbstes ging das los, während beständiger Wetterlagen im Sommer oder Winter dagegen niemals. Ganz so, als würde diese Musik ihm über die Wechselphase zwischen den Jahreszeiten helfen, als brauche er eine Übergangs-, eine Ü-Musik, analog zum einst sogenannten Übergangsmantel, diesem leichten, doch ausreichend wärmenden Mantel. Gut vorstellbar, wie er siebzig Zentimeter Luftlinie von meiner Schreibtischkante entfernt mit ernstem Gesicht in seinem Sessel saß, etwas blaß, leicht graugelockt, und zuhörte, um sich emotional auf die Wetterveränderung einzustimmen und seine Tageslaune zu stabilisieren – diese mentale Umstellung konnte mehrere Wochen dauern. So lange hielt er die Zeit an, indem er die alten Zeiten zurückkehren ließ und sich musikgestützt in frühere, auch angenehmere Gefühlszustände zu versetzen versuchte. Ein schätzungsweise Sechzigjähriger rief die Empfindungen der sechziger Jahre auf – die Sehnsucht des Pubertierenden, der er seinerzeit war, die Hoffnung auf Erfüllung der Begierde, die stets nah und in jedem Moment möglich schien, die großen Versprechen der Jugend, den Kummer. Das alles spielten die alten Lieder noch einmal in die Gegenwart ein. Vielleicht wollte er als Do-it-yourself-Analytiker spezielle Erlebnisse erinnern, wiederholen, aufarbeiten, vielleicht genoß er seine Regressionen in halbbewußt schlichtem Masochismus. Vielleicht lenkte er sich nur ab, während Pschyrembels Klinisches Wörterbuch auf seinen Knien lag, aufgeschlagen bei »D« wie Durchblutungsstörungen. Für mein Gefühl hatte seine Musikauswahl einen Unterton von Entbehrung und Verlust, von repressiver

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