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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Entsublimierung, einem bedauerlich paradoxen Zustand, in dem sich der Mann nebenan heute befinden dürfte – als Alleinlebender, Unbesuchter und Ungeküßter, wie eine allzu durchlässige Wand allabendlich verriet.
     
    Wer könnte sich bei so einem Konzert anderweitig konzentrieren? Um beispielsweise einen Fünf-Minuten-Morgen-Kommentar fürs Kulturradio zu verfassen? Einen Kommentar, der den laufenden Wettbewerb zum Wort des Jahres 2005 konterkarieren und zwei eigene Vorschläge ins Spiel bringen sollte – den Trilogismus ›Badewannentiere‹ oder das im oberen Segment des Wohnungsmarkts vermehrt installierte Gestänge einer ›Handtuchhalterheizung‹. Klar, Ironie brachte Miete – ein ernsthaft abzuhandelndes Wort stand auch noch zur Wahl, ›Inobhutnahme‹. Mit des Nachbars vergangenheitsbelasteten Songs im Ohr kostete die Arbeit mehr Zeit als vorgesehen.
     
    Ein rein miettechnisch hoffnungsloser Fall – da wir seit langen Jahren aus mir entfallenem Grund nicht mehr miteinander sprachen, konnten wir auch nicht über diese Störungen sprechen. Durchaus möglich, daß er mich längst haßte, so daß eine Beschwerde noch schlimmere Belästigungen nach sich ziehen dürfte. Wobei die zulässige Lautstärke von ihm kaum überschritten wurde – Zimmerlautstärke, mehr war’s nicht, allerdings gleich laut in beiden Zimmern. Denn im Grunde lebten wir in ein und derselben Wohnung, einer im vierten Stock schön ums Eck laufenden Siebenzimmerwohnung, deren ursprünglicher Grundriß als zusammenhängend fühlbar blieb, auch wenn sie zu zwei mal Drei-Zimmer-Küche-Bad neu zurechtgeschnitten worden war – bei der letzten der alle paar Jahrzehnte spekulativ vorgenommenen Berliner Mietshausbasteleien. Dem Nachbarn war der einzige Balkon geblieben, ein mittlerweile auf Außenwirkung bedachter Nistkasten des Blödsinns, den er mit Pflanzen, Lichterketten und bunten Wimpeln ausstattete, wobei er an einem weißen Seil zusätzlich einen phallischen Fender zur Straße herunterhängen ließ – ein weißer Puffer, der den Balkon womöglich vor Beschädigungen durch anlegende Luftschiffe bewahren sollte. Als wir uns vor siebzehn, achtzehn Jahren bei der Wohnungsbesichtigung kennenlernten, hatte der Mann im Nebenzimmer noch nichts Sonderbares an sich. Doch kurz nach meinem Einzug war er mir im Hof auf Krücken entgegengehumpelt und erzählte eine Geschichte, die jeden Sozialamtsmitarbeiter zu seiner je eigenen Sorte von Tränen verleitet haben dürfte.
     
    Aber das wär doch alles halb so schlimm, hatte ich dem Nachbarn damals in einem ersten Kommentar gesagt, seine Freundin könnte ihn doch pflegen – ausgerechnet die, antwortete er, von wegen.
     
    Sein gelassen vorgetragener Bericht war schwere Kost für einen gestandenen Agnostiker wie mich, der an schicksalhaft vorbestimmte Ereignisse nicht glauben mochte. Wie sich herausstellte, hatte ihn seine zuvor täglich in der Wohnung auftauchende, harmlos hübsche Freundin knallfall verlassen und sich mit ihrem neuen Lover nach Ibiza abgesetzt – vor abgelegenen, meerumspülten Felsformationen gaben sich die zwei ihrem Honeymoon im Freien hin. Als der Nachbar davon erfuhr, verließ er spontan seinen Arbeitsplatz und folgte den beiden bis in die Bucht ihrer Wahl, vermutlich dem berühmten Atlantis bei San Carlos, um sie dort zur Rede zu stellen. Doch dazu kam es nicht. Beim erkundenden Heranklettern verlor er in Sichtweite des Paares den Halt und stürzte von den Klippen ab – mit der Folge des mehrfachen Bruchs beider Beine. Nach langen Wochen im ibizenkischen Krankenhaus allein wieder zurückgekehrt, erreichte ihn am Tag der Ankunft die fristlose Kündigung seiner Firma, verständlicherweise, klar.
     
    Und das war’s dann auch – seit fast zwanzig Jahren nichts, keine Arbeit, keine Anstellung, kein Job. Nur einmal hatte er etwas erwähnt, kurz nach der Wende, eine Stelle in Greifswald, nach einer Woche kehrte er in die heimische Untätigkeit zurück. Er war ständig anwesend, nicht ein Tag der Abwesenheit im Nebenzimmer während all der Zeit, keine Besuche, keine Freundin, keine einzige Frau, die hörbar hinter der Wand gesprochen hätte. Samstag abends zog er als Single los und kam fünf Stunden später als Vorsenior zurück – schleppenden Trittes, mit einem längst in die Gesichtshaut eingewachsenen Zug von Verachtung. In den musikfreien Phasen herrschte Stille, eine falschgoldne Stille zum Mithören – uns trennte nur die spiegeldünne Wand, Grenze zwischen Projektion

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