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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Wald, dem weltbekannten deutschen Wald, gab’s Schönheit, Eulen zwinkerten uns zu, wenn wir Wölflinge sie in sternenklaren Nächten entdeckten, wir wußten, wo, immer auf den unteren Zweigen, den Boden im Blick. Nüsse wurden zur Zweitwährung und Pilze harte Devisen, sofort in echte Mark zu verwandeln – der feuerrote Ziegenbart oder die Früchte der im Sumpfigen stehenden Haselsträucher. Nur der Geschmack der Bucheckern ließ zu wünschen übrig, im Sommer grün-matschig, im Herbst angeblich eßbar, schmeckten sie nach Staub, pelzig im Abgang.
     
    … the green leaves of summer …
     
    … in diesem Sommer tanzte ich eng, am engsten mit Susanne, im Sommer ’ 59 oder war’s schon 1960 , den Jahren der Pubertät, die alles veränderten, die aus Meßdienern ungläubige Teufel machte – die Kirche war aus, für mich und Ulli Kulisch für immer. Uns wollte partout nicht einleuchten, daß die heilige Maria die Mutter Gottes geworden und doch unbefleckt geblieben sein sollte … Sorry, Herr Pfarrer, sorry, heiliger Antonius, ein einzelner Sonnenstrahl sollte Marias Jungfernhaut durchdrungen haben, hieß es, allein die Sonne hätte dafür gesorgt, daß der Same durch ein winzig eingebranntes, sich sofort wieder schließendes Loch sauber einschlüpfte und die Unschuld bewahrte … Nein, das konnte nicht sein, wir hatten ja die weißlichen Flatschen schon öfter fliegen sehen, wir kannten ihre explosive, flächendeckende Dynamik. Angeblich waren wir sogar schuld an diesem herausschießenden Samen und mußten’s Pfarrer Wosnitza beichten, obwohl seine madonnenhafte Vorsängerin in unseren Libidoangelegenheiten durchaus eine Rolle spielte – einfach erregend ihr Sopran, ihr »Meerstern, ich dich grüße« vibrierte unter der Vorhaut …
     
    In diesem Sommer lernte ich zu lügen, wenn Vater fragte: Wie war’s denn in der Kirche? … na ja gut, wie immer … bis ihm, wegen seiner Scheidung längst exkommuniziert, irgendwer flüsterte – Verräter gab’s überall –, daß ich seit, sagen wir, geraumer Zeit bei keiner Messe mehr gesehen worden sei. Also verfeinerte er seine Fragemethoden, wollte zunächst wissen, um welchen Sonntag es sich namentlich gehandelt hätte – das verriet der liturgische Kalender, eine leichte Übung für mich. Also steigerte er den Schwierigkeitsgrad in unserem Katholikenquiz: Welche Farbe trug der Priester beim Hochamt am heutigen Morgen? Verdammt, Gelb-Violett-Grün-Schwarz oder was … meine Augenlider zwinkerten, und patsch, da zuckte Vaters Rechte zum Backenstreich blitzschnell aus der Hüfte; der alte Dekan in unserem humoristischen Guminaseum kündigte seine Ohrfeigen wenigstens an, bevor er in der Religionsstunde Schlafende weckte: Steh auf, ungläubiger Sohn, jetzt gibt’s einen aus der Armenkasse, patsch. Die Soutanen wechselten tatsächlich jeden Sonntag die Farbe! Hochheilige Versprechungen und der Besuch zweier Gottesdienste waren fällig, bis ich im Dorf eine stille Post einrichtete, die mir die liturgisch vorgeschriebene und vom Priester auch eingehaltene Sonntagsfarbe an meine meist sonnigen Aufenthaltsorte oder ins Sportstadion meldete – so log ich für die Freiheit, die Kirche nicht betreten zu müssen und machen zu können, was mir besser gefiel.
     
    The green leaves …
     
    … in diesem Sommer lagen wir oft am Waldrand, der Rudi, der Pitze und wer auch immer, und warteten, was der Nachmittag bringen würde – ob der Fritze noch käme, ob sich die Schäker oder ein anderes Mädchen zeigte. Der Fritze, ein Dörfler von Mitte Vierzig, fühlte sich zu unsrer Clique hingezogen, einigen brachte er das richtige Rauchen bei, das Auf-Lunge-Rauchen, die Initiation ins Leben der Erwachsenen. Unvergeßlich, der erste tief inhalierte Zug, der nur kurze Abwehrschmerz im Rachen, das ebensoschnell vergehende Gefühl von leichter Sinneswirre, dann Euphorie, in der ich singend und schreiend den Höllen-Berg hinunterlief und zugleich aufstieg wie Nils Holgersson, der hoch über den Bäumen himmelwärts flog – der Weg in die große, weite Stuyvesandt-Welt führte durch die Luft und würde niemals enden. Den Zigarettenspender steckten sie alle paar Monate in den Knast, sehr zu unserem Unwillen, der Fritze war doch harmlos, ein Unterhaltungskünstler, ein Clown, oder? Wir lachten bloß, wenn er den Saum unserer kurzen Hosen ganz langsam mit den Fingern abfuhr und die durchaus begriffene Aussichtslosigkeit seines Begehrens mit blödelnden Grimassen und schwärmerischen wie

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